6. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie, 13.01.2006

Moritz Baßler

Was nicht ins Archiv kommt.
Zur Analysierbarkeit kultureller Selektion

I

Es gibt eine erschütternde Episode in Wilhelm Raabes später Erzählung Die Akten des Vogelsangs (1896), wo Velten Andres nach dem Tode seiner Mutter das gesamte Inventar seines Elternhauses verheizt. Er zerstört damit die letzten Zeugnisse einer vergangenen nachbarschaftlichen Idylle im Vogelsang, einer Gegend, die inzwischen von Fabriken und Vergnügungsetablissements geprägt und zur Unkenntlichkeit modernisiert ist. Den weniger radikalen, eher gutbürgerlichen Erzähler, Veltens Schulfreund Krumhardt, ergreift über diesem Autodafé eine ihm selbst unheimliche Begeisterung:

Worin lag nun der Zauber, der mich  [...] jeden Tag nach der alten Heimstätte trug, die jetzt zu einer Stätte der Vernichtung geworden war? [...] Wohl selten ist je einem Menschen die Gelegenheit geboten worden, seine "besten Jahre" in die unruhvolle Gegenwart so zurückzurufen wie mir in Velten Andres’ Krematorium. Wie wir im Vogelsang in der Nachbarschaft [...] gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal im reichsten Maße und konnte meine Lebensakten in wünschenswertester Weise dadurch vervollständigen. Der Wanderer auf der wankenden Erde [= Velten Andres] schob aus seinem Hausrat kaum ein Stück in den Ofen oder auch auf den Küchenherd, an dem nicht auch für mich eine Erinnerung hing und mit ihm in Flammen aufging und zu Asche wurde.[[1]]

Der Ziegenhainer, die Zerevismütze, das alte Schaukelpferd – alle werden sie noch einmal Anlaß, die mit ihnen einst verbundenen Diskurse zu erinnern und aufzuschreiben, ad acta vitae zu legen, die dann jenes Buch ausmachen, das den Titel Die Akten des Vogelsangs trägt. Krumhardt selbst, sein fiktiver Verfasser, ist da übrigens längst vom Vogelsang weggezogen – in der Erzählgegenwart ist er wohnhaft in der Archivstraße!

Mit Archiven haben wir es hier in zweierlei unterschiedlicher Form zu tun: zum einen mit dem Elternhaus voller Objekte aus vergangenen Zeiten, zum anderen mit den schriftlichen Akten, in denen ein Zeitzeuge die "Nachbarschaft", d.h. die Kontiguitätszusammenhänge notiert, in denen diese Objekte einst standen – in jenen Zeiten, da sie noch Bestandteile praktischen Lebens und nicht bloß Sammelstücke im "Herzensmuseum" der alten Frau Andres waren. Schon dort hatten sie ja nur deshalb ein Refugium gefunden, weil jene Zusammenhänge eben im Herzen und im Bewußtsein seiner Bewohnerin gespeichert geblieben waren. Mit deren Ableben wären sie derselben erinnerungslosen Zerstörung qua Modernisierung anheimgefallen wie der übrige Vogelsang, wenn sich nicht Archivar Krumhardt eingefunden hätte, sie in einem anderen Medium, dem des Textes, aufzuzeichnen und diesmal ausdrücklich für die Nachwelt abzuspeichern.

Allerdings wäre dieser Zeitblomsche Akt der Archivierung wohl niemals erfolgt, wenn der "gloriose Weltenbummler" Velten Andres nach seiner Heimkehr nicht eben jenes grenzpathologische Zerstörungswerk in Gang gesetzt hätte, das die Bürger des Städtchens zugleich verstört und fasziniert. Es ist Krumhardts braver Ehefrau vorbehalten, den impliziten Horror dessen zu formulieren, was hier vorgeht: "ich habe", jammert sie

"doch noch letzte Nacht geträumt, auch du habest mich mit unserem Jungen – ich meine unsere letzte Photographie – verbrannt wie er die Bilder seiner Eltern und seiner als ganz kleines Kind verstorbenen Schwester! O bitte, da nimm uns, Ferdi und mich, doch lieber jetzt gleich mit und schieb uns in euren Ofen in deinem Vogelsang!"[[2]]

Ihr Gefühl trügt nicht: Es ist letztlich der Merkwürdigkeit Veltens, eines nach bürgerlichem Maßstab gescheiterten Charakters zwischen Genie und Freak,[[3]] zu verdanken, daß der idyllische Alltag im Vogelsang in Form von Literatur der Nachwelt überliefert wird, während die eigene lebendige Gegenwart der Familie Krumhardt frei von allem Außergewöhnlichen ist und daher – trotz bürgerlicher Routinearchivierung im Medium der Photographie – aller Voraussicht nach klanglos zum Orkus hinabgehen wird. Raabes leicht marottifizierte Prosa substituiert dabei den lebendigen Zusammenhang von Mutter und Kind durch seine Aufzeichnung und spitzt dadurch bestimmt Charakteristika des Archivierungsprozesses zu bis zur Unerträglichkeit. Wenn man Fotos verbrennt, dann kann man eigentlich auch gleich Menschen verbrennen – so radikal steht es bei Raabe. Und in der Tat: Letztlich teilen Fotos ohne diskursives Umfeld das Schicksal der auf ihnen Abgebildeten. Ohne Legende verraten sie am Ende nichts mehr über Anlaß der Aufnahme, Namen der abgebildeten Personen und weitere Umstände. Allenfalls die Textualisierung, die Aufnahme in die Akten, die Verwandlung in Literatur – so legt Raabes Erzählung nahe – vermag diesen Prozeß der Isolierung, des Stummwerdens und letztlich der Zerstörung der Dinge des Lebens aufzuhalten.[[4]]

II

When my father died
We put him in the ground
When my father died
It was like a whole library had burned down

heißt es in einem Song von Laurie Anderson.[[5]] Analoge Vergleiche kann man derzeit öfters im Feuilleton lesen, wenn darüber reflektiert wird, daß die letzten Zeugen einer Generation, die Weltkrieg und Holocaust im erwachsenen Alter erleben mußte, allmählich aussterben. Was sie nicht mehr zu Protokoll geben, heißt das, ist für die Nachwelt verloren. Es scheint mir kein Zufall, daß das Medium der rettenden Archivierung in solchen Wendungen stets die textuelle Aufzeichnung ist: die Akten, die Bibliothek. Auch wenn die Archivierungsprojekte Spielbergs und anderer längst zu akustischen und filmischen Aufzeichnungen übergegangen sind – entscheidend sind zwei Eigenschaften: erstens Speicherung (d.h. Objektförmigkeit, Lagerungsfähigkeit und wiederholte Zugänglichkeit) und zweitens Verbalität (d.h. Lesbarkeit). In Kombination ergeben diese beiden Faktoren die Definition eines weiten, aber nicht-metaphorischen Textbegriffes. Für einen so verstandenen Text gilt das Wort Bachtins:

Der Text [...] ist die primäre Gegebenheit [...] allen Denkens in den Humanwissenschaften [...]. Wo kein Text ist, da ist auch nichts, worüber zu forschen oder zu denken wäre.[[6]]

Textualität wäre demnach nicht einfach nur als ein Medium unter anderen zu begreifen, sondern als basale Eigenschaft von Archiven. Gespeicherte, d.h. einer überprüfbaren wissenschaftlichen Analyse zugängliche Kontexte sind textuell oder sie sind nicht – so lautet meine These als Reformulierung von Bachtins Verdikt. Um diese kühne, derzeit ein wenig gegen den Trend gesprochene Annahme zu plausibilisieren, sei ein kleiner, aber hoffentlich erhellender Umweg über die Systemtheorie erlaubt.[[7]]

Auch für Niklas Luhmann erfüllen Texte eine dem Gedächtnis menschlicher ‚Bewußtseine’ analoge Aufgabe: Sie speichern Wissen und halten es transsituativ als Vergleichswissen für je aktuelle Operationen psychischer und sozialer Systeme bereit. Dirk Baecker konkretisiert diesen Gedanken, indem er Kultur überhaupt als dieses Vergleichswissen definiert, mit der Betonung auf "Vergleich":

"Kultur" ist das, was unvergleichbare Lebensweisen vergleichbar macht. [...] Der moderne Kulturbegriff ist das Ergebnis der intellektuellen Praxis des Vergleichens.[[8]] [...]es geht um die scheinbar ganz harmlose intellektuelle Geste, irgend etwas für "interessant" zu halten und sich mithilfe des Vergleichswissens, das man sich angelesen hat, Gedanken über dieses Interessante zu machen.[[9]]

Als Beispiel führt Baecker religiöse Kulthandlungen an, die erst im interkulturellen Vergleich kulturförmig werden. Ebensogut könnte aber auch von Kinderspielzeug, Popmusik oder Eßbesteck die Rede sein. Entscheidend ist, daß in Baeckers Modell all dies, selbst die Kulthandlung, nicht per se Kultur ist, sondern daß Kultur daraus wird als Ergebnis einer bestimmten Betrachtungsweise. Diese Betrachtungsweise ist der Vergleich. Und wie nichts essentiell Kultur ist, so gilt auch umgekehrt, daß es nichts gibt, was per se nicht unter Kultur subsumierbar wäre.

Alles läßt sich vergleichen, alles kann "interessant" oder "uninteressant" gemacht werden, von der Frage der Weinbaukunst bis zur Frage der ehelichen Liebe. Alles erscheint doppelt, nämlich einmal als das, was es ist, und einmal als das, was es im Rahmen eines Vergleiches bedeutet. Und natürlich schlagen die Konjunkturen der Bedeutung zurück auf das, was etwas "ist". Schließlich "ist" nichts mehr etwas, wenn es nicht zugleich auch etwas "bedeutet".[[10]]


"Alles läßt sich vergleichen", in einer elaborierten Kultur finden sich keine Dinge, die nicht auch Bedeutung haben,[[11]] eine Bedeutung, die ihnen aber wie gesagt nicht ontologisch anhaftet, sondern die ihnen aufgrund einer bestimmten intellektuellen Praxis zugeschrieben werden kann. Wo Baecker über die ethnologische Methode des Kulturvergleichs handelt, benennt er auch, um was für eine Praxis es sich hier handelt:


Eine im strengen Sinne des Wortes ethnologische Kulturbeschreibung dürfte [...] nicht anthropologisch, das heißt mit Referenz auf die Unterschiedlichkeit (und Gleichheit) der beteiligten Menschen, sondern sie müßte semiotisch verfahren, das heißt mit Referenz auf die Zeichen, die den Kulturkontakt so oder anders schwer oder leicht machen.[[12]]

Eine kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise impliziert gleichsam die Ethnologisierung der eigenen Kultur.[[13]] Die kulturpoietische Praxis des Vergleichens ist dabei wesentlich eine semiotische, denn "Zeichen" sind ja eben Dinge im Modus des Vergleichs.

Kultur ist demnach "das Ergebnis der intellektuellen Praxis des Vergleichens." Aber interessant: Textualistisch gefaßt, für uns Germanisten also, ist der Vergleich, den Baecker im Zentrum seines Kulturbegriffs ansiedelt, zuallererst ein Tropus, und zwar jener Tropus, der Äquivalenzbeziehungen herstellt. Der Vergleich stiftet eine Äquivalenz zwischen den verglichenen Dingen: A ist in gewisser Hinsicht wie (oder nicht wie) B. Äquivalenzbeziehungen aber sind konstitutiv für die paradigmatische Achse jedes Textes, sie definieren genau jene textuelle Dimension, in der die Alternativen zum syntagmatisch notierten Wortlaut gespeichert sind. Die Elemente eines Paradigmas sind dadurch definiert, daß sie einander äquivalent sind – und umgekehrt: Was äquivalent ist, kann ein Paradigma bilden.

Die Differenz interessant/uninteressant, die die Bochumer Schule der Systemtheorie interessanterweise zunächst als Leitdifferenz für das Literatursystem vorgeschlagen hatte, appliziert Baecker auf Kultur allgemein: "alles", sagt er, "kann ‚interessant’ oder ‚uninteressant’ gemacht werden", indem man es mit anderem vergleicht. Für unsere textuelle Formulierung dieser Theorie muß eine weitere Unterscheidung getroffen werden: Ein syntagmatisch ausgeführter Vergleich mag Dinge interessant oder uninteressant machen, jeder Teil eines Textes bedeutet aber überhaupt nur etwas als Teil eines – genauer gesagt: mindestens eines – Paradigmas, also in Bezug auf kulturell verfügbare Vergleichsgrößen. "Alles erscheint doppelt" – als Ding und als Repräsentation. Sobald man jedoch einmal im interpretativen Modus der Kultur und a fortiori der Kulturwissenschaft ist, sobald man also kontextualisiert, erscheint es nicht mehr bloß doppelt, sondern vielfach und geradezu "unausschöpfbar", weil die Paradigmen einer Kultur vielfach und unausschöpfbar sind.


Dem Vergleich im Herzen einer systemtheoretischen Kulturtheorie entspricht also im Herzen einer textualistischen Kulturtheorie das Paradigma. Die Paradigmen einer Kultur sind demnach die vorrätig gehaltenen Aufzeichnungen der "intellektuellen Praxis des Vergleichens" und bilden zugleich die Folie, vor der jeder neue Text, jede neue Sequenz, jeder neue Vergleich Bedeutung gewinnt. Sie haben den Vorteil, daß sie in Objektform archiviert und daher jederzeit, d.h. zeitunabhängig und synchron, ablesbar sind. Daß dieses Archiv dabei materialiter gedacht wird und nicht als latent verfügbarer Code (langue), markiert den Unterschied zwischen einem textualistischen Kulturbegriff und dem einer linguistisch-systemisch bestimmten Sprache. Es garantiert, daß die Interpretation bei alledem "endlich" bleibt, also nicht beliebig wird, denn alles und jedes läßt sich zwar miteinander vergleichen, in einer "konkreten Kultur" werden (und vor allem: wurden) aber stets nur bestimmte Dinge miteinander verglichen und andere nicht – das eben definiert eine konkrete Kultur und unterscheidet sie von anderen. Was in einer gegebenen Kultur miteinander vergleichbar ist, macht den Sinnhorizont für alle ihre Repräsentationen aus. Dieser kulturelle Sinnhorizont ist also überprüfbarer Analyse zugänglich, jedoch nicht – und darauf kommt es an – als Sinnhorizont einer gegebenen Handlung oder Kommunikation, sondern in Gestalt der möglichen Paradigmen zu einem gegebenen Objekt, als Funktion des kulturellen Archivs also.



III


Der Archivbegriff, den ich hier propagiere, ist somit ein denkbar schlichter. Anders als Foucault meine ich damit nicht irgend ein systemisches, ort- und trägerloses "Gesetz dessen, was gesagt werden kann",[[14]] kein historisches oder mediales Apriori, sondern zunächst einmal genau jene "Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat" (die Foucault ausdrücklich nicht meint). Mit Boris Groys und gegen Foucault wird das Archiv einer Kultur hier also


als real existierendes verstanden – und in diesem Sinne auch durch die Zerstörung bedroht und deswegen endlich, exklusiv, begrenzt, so daß nicht alle möglichen Aussagen in ihm vorformuliert gefunden werden können.[[15]]


Dafür aber die wirklichen. Und wenn man statt von Aussagen von Texten spricht und mitbedenkt, daß Texte eine paradigmatische Achse haben, und wenn man diese paradigmatische Achse innerhalb des Korpus, des material gegebenen Archivs selbst ansiedelt als Summe seiner Äquivalenzstrukturen, dann wird die Pointe dieser Entscheidung sichtbar: Die Diskurse und die Texte lassen sich auf ein und demselben Tableau analysieren. Damit und erst damit ist jene von Foucault avisierte Umstellung vollzogen, die "an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit" setzt.[[16]] Das Glück des Positivisten liegt in der Textualität.


Im Archiv sind die Dinge in einer Weise gespeichert, daß man auf sie zugreifen kann, und zwar wiederholt. Im konkreten Falle handelt es sich dabei oft genug um Texte im engeren Sinne, und das nicht zufällig, denn Texte sind ja eben als Instrumente zur Speicherung von Kontiguitätszusammenhängen mit der Möglichkeit des wiederholten Zugriffs entwickelt worden. Andernfalls handelt es sich bei den Dingen im Archiv um Texte genau in dem Maße, wie sie zueinander Paradigmen bilden können. – Dieses Archiv ist die Voraussetzung, die Ausgangsbedingung jeder kulturwissenschaftlichen Arbeit. Was nicht im Archiv ist, kann kulturwissenschaftlich nicht analysiert werden. Im Unterschied zu anderen Archiv-Begriffen (etwa dem Derridas), die ein Archiv bereits als Ergebnis einer Auswahl, als etwas Zustandegekommenes, als Verwaltungs- und Machtinstrument und darüber hinaus als etwas immer schon Geordnetes, Hierarchisiertes, mit Indices Versehenes beschreiben – was für jedes konkrete Archiv natürlich ebenso zutrifft wie für jeden konkreten Text –, muß eine textualistische Kulturtheorie vom Archiv als einer bloßen Sammlung der gegebenen Untersuchungsobjekte ausgehen.


"Wo kein Text ist, da ist auch nichts, worüber zu forschen oder zu denken wäre." Aber etwas wird überhaupt erst zum Text oder als Text lesbar durch seine Beziehung zu anderen Texten, intertextuell. "Textualität heißt auch: Praxis des Archivs."[[17]] bemerkt Wolfgang Ernst. In meiner Lesart heißt das: Das Archiv versammelt die für die Kontextualisierung verfügbaren Texte, es enthält sämtliche Texte, zu denen der Einzeltext in Beziehung gesetzt werden kann, aber noch nicht diese Beziehungen selbst. Das bedeutet, daß es in sich noch nicht indexikalisiert oder strukturiert sein kann. Es ist nicht nur gekennzeichnet durch die "Gleichzeitigkeit seiner Dokumente, die doch aus verschiedenen Zeiten stammen",[[18]] sondern ganz generell durch deren strenge Nebenordnung – sans ordre et sans ordre. Es hat, wenn man so will, die Form einer Volltext-Datenbank noch ohne Indices und ohne Links.


Ist es nicht naiv, angesichts einer entwickelten Archiv-Forschung, die von der Handhabung konkreter Archive bis hin zu einer dekonstruktivistischen Archiv-Theorie reicht, einen derart schlichten Archiv-Begriff vorzuschlagen? Nun, es sei daran erinnert, was eine textualistische Kulturwissenschaft leisten soll: Sie soll Texte in ihrer Kultur kontextualisieren. Dazu ist es nötig, in einem ersten Schritt die verfügbaren Dokumente dieser Kultur nebeneinander auf den Tisch zu legen. Das, was dann auf diesem Tisch liegt, nenne ich Archiv. Ohne Zweifel kommen im wirklichen Leben die Texte immer schon irgendwie rubriziert, eingeordnet und bewertet auf uns. Jedes konkrete Archiv ist das Ergebnis entsprechender Prozesse. Aber der erfolgreiche Kunstgriff der New Historicists lag ja zunächst einmal darin, die überkommenen Rubriken, Narrative und Wertungen der Renaissance-Forschung in Frage zu stellen, den Tisch sozusagen wieder frei zu machen für neue Anordnungen. Der vorgeschlagene Archivbegriff ist also gar nicht so abstrakt, wie er zunächst erscheinen mag, wenn man real existierende Archive im Sinn hat. Zu deren Beschreibung taugt er freilich nicht. Er ist jedoch ausgesprochen konkret im Sinne einer methodologischen Vorgabe: Die Dokumente einer gegebenen Kultur sind zunächst zu kollationieren und nebeneinander anzuordnen. Das entsprechende, Archiv genannte Textkorpus ist Bedingung, Gegenstand und Grenze aller folgenden kulturwissenschaftlichen Operationen.


IV


In Die kulturpoetische Funktion und das Archiv[[19]] habe ich die hier angedeuteten Überlegungen in zwei Richtungen weiterverfolgt: Zum einen in Richtung einer Theorie der kulturpoietischen Funktion als einer Art strukturalistischen Rhetorik des Archivs, zum anderen in Richtung eher pragmatischer Fragestellungen nach den Möglichkeiten einer Digitalisierung von Archiven, danach, was für Datenbanken wir als Geisteswissenschaftler brauchen und welche Suchbefehle wir an sie richten könnten. Auf beides will ich an dieser Stelle nicht näher eingehen, denn die Frage lautet ja: was nicht ins Archiv paßt. Allerdings läßt sich an meine Behauptung, ein Archiv wie oben beschrieben ließe sich prinzipiell auch digitalisieren, bereits eine erste und grundsätzliche Frage anschließen: Wird hier nicht ein hoffnungsloser Reduktionismus gepredigt? Geht nicht im Medium der Textualität, wie insbesondere in ihrer digitalisierten Form erkennbar wird, bereits eine Menge verloren? Was ist z.B. mit Bildern, Materialtexturen, atmosphärischen Gegebenheiten und ähnlichem?

Es ist nun in der Tat so, daß ich mein Modell als literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie entworfen habe und dabei zunächst Volltext-Datenbanken im engeren Sinne im Auge hatte. Den Kon-text solcherart wörtlich zu nehmen, hat einen großen Vorteil: Sämtliche relevanten Dimensionen – paradigmatische und syntagmatische – lassen sich hier im Prinzip aus einem relativ beschränkten Satz diskreter Zeichen lesen. Wohlgemerkt: im Prinzip! Praktisch sind wir auch hier selbstverständlich noch weit davon entfernt, daß der Computer alle uns interessierenden Äquivalenz- und Kontiguitätsphänomene im Archiv aufspüren und auswerten könnte. Viel mehr als erweiterte Stichwort-Recherchen stehen ja bisher kaum zur Verfügung. Aber es ist schließlich an uns, zu sagen, welche Technik wir brauchen, und nicht umgekehrt, uns von der Technik vorschreiben zu lassen, was geht und was nicht.

Daß die technischen Schwierigkeiten der Vergleichssuche enorm steigen, sobald Objekte mit einbezogen werden, die nicht verbal strukturiert und also nicht auf den Standard-Zeichensatz reduzierbar sind, kann man sich leicht vorstellen. Dennoch, so scheint mir, wird der textualistische Archivbegriff durch die mediale Erweiterung im Prinzip nicht in Frage gestellt. Denn Gegenstand semiotischer Analyse kann letztlich nur Diskretes sein, oder anders: in dem Moment, in dem man Bilder oder Performances oder was auch immer semiotisch liest, d.h. ihre Bedeutung innerhalb eines Archives kontextualisierend über Kombinationen und Äquivalenzreihen bestimmt, konstruiert man die entsprechenden Elemente notwendig als diskrete. Was aber diskret ist, läßt sich per definitionem auch digitalisieren. Textualität ist demnach geradezu so etwas wie das Interface zwischen strukturalistisch-semiotischer Theorie und Digitalisierung. Wie gesagt: Textualität im hier explizierten Sinne ist nicht einfach ein Medium unter anderen. Sie liegt sozusagen theorietechnisch tiefer als die dann allerdings sehr nötigen medientheoretischen Spezifikationen.

Bei alledem muß man, scheint mir, keine allzu heftigen Bedenken tragen. Der Textbegriff ist, wie Baeckers Kulturbegriff, ja kein ontologischer, sondern ein operativer. Ja, ich behaupte, daß letztlich nur Textförmiges Gegenstand kulturwissenschaftlicher Analysen sein kann. Umgekehrt ist diese Textualität der Kultur aber ja eben nur ein Tool, ein Werkzeug zur Analyse dessen, was uns und unsere Kunstwerke umgibt, und keine Hypothese über das Wesen der Welt (die erfahrungsgemäß eine Menge Nicht-Diskretes bereithält). Die von mir vorgeschlagene Text-Kontext-Theorie ist nichts als den Versuch, dieses Werkzeug so scharf und so produktiv wie möglich zu machen.


V


Im Zusammenhang eines solchen archivimmanenten Strukturalismus ist das Archiv vor allem die Antwort auf die Frage nach der Analysierbarkeit von kulturellen Similaritäts- und Kontiguitätsbeziehungen Das Archiv einer Kultur als Korpus der aus ihr überlieferten Texte beantwortet – wenn Sie so wollen – eine Wo-Frage: Wo sind sie, die Diskurse, die kulturellen Paradigmen, wo ist der semiotische Hintergrund einer Kultur, und zwar materialiter, d.h. sofern sie sich analysieren lassen? Weder Foucaults historisches Apriori mit seinem, wie Groys spottet, ortlosen und immateriellen Träger noch etwa Ecos Konzept einer Enzyklopädie nach dem Quillianschen Modell Q beantworten diese Frage nach der Materialität des Paradigmas zufriedenstellend, geschweige denn Luhmanns dynamisches System, das niemals als Struktur analysierbar wird, weil es nicht stillhalten kann. Und Derridas Archiv enthält bereits Propositionen, sozusagen verstandene Sätze, und setzt damit implizit bereits hermeneutische Operationen voraus, deren Bedingung das Archiv m.E. allererst wäre.

Das Archiv, wie es hier entworfen wird, enthält die Sequenzen einer Kultur ebenso wie deren mögliche Paradigmen Jeder Einzeltext wird lesbar im Vergleich mit einem Vorrat äquivalenter Möglichkeiten. Analytisch sind diese Möglichkeiten nun aber, wie gesagt, nicht in systemisch-regelhafter Form, sondern allein als Okkurrenzen in positiv vorhandenen Vergleichstexten des selben Archivs zu fassen. Sie ahnen en passant, wozu man hier Computer brauchen wird: zur bloßen Quantitäts- und Komplexitätsbewältigung.

Und damit komme ich zur Frage der Analysierbarkeit von Selektion. In einem strukturalistisch informierten Begriff von Textualität ist Selektion immer schon impliziert. Jakobson nennt bekanntlich die paradigmatische Achse des Textes auch ‚Achse der Selektion’. Das ist freilich immer noch produktionsästhetisch und überdies in einem langue/parole-Modell gedacht, noch nicht von einer Materialität des Paradigmas aus. Analytisch gewendet, bezeichnet die Jakobsonsche Selektion denn auch nichts anderes als die Semantisierung von Objekten (Sequenzen, Textstellen) qua Vergleich mit äquivalenten Objekten (Sequenzen, Textstellen). Ein Paradigma ist demnach eine Äquivalenzstruktur im Archiv, d.h. im Korpus derjenigen Texte, die man auf vergleichbare Stellen hin durchsucht. Man liest die manifeste Stelle auf Gleichheit und Differenz zu diesen anderen Okkurrenzen desselben Diskurses hin. Die Sammlung dieser Äquivalenzstellen bezeichnet dann als eine Art kulturelle Topik die Möglichkeiten dessen, was in einer Kultur anstelle des im manifesten Text Vorgefundenen auch noch sagbar war bzw. gewesen wäre. Und die Grenzen dieser Operation werden definiert duch die materialen Gegebenheiten des Archivs.

Was von der Foucaultschen Möglichkeitsstruktur übrig bleibt, wenn man sie konkret analysieren möchte, ist also kein historisches Apriori, sondern – ganz positivistisch – eine Sammlung von Vergleichsstellen. Selbstverständlich kann man dann, in einem zweiten Schritt, in einem Abstraktionsvorgang die Eigenschaften dieser Vergleichsstellen als historische Formationsregel dynamisieren. Aber erstens sehe ich nicht recht den Erkenntniswert einer solchen Operation, und zweitens – und das ist das Entscheidende – ergibt sie, analytisch betrachtet, eben gerade kein Apriori, sondern bleibt gegenüber dem Archiv immer sekundär, immer a posteriori. Wenn es ein historisches Apriori der Analyse gibt, dann ist das das Archiv.

Ein bedenkenswerter Einwand gegen meinen Versuch, die Popliteratur der 1990er Jahre als nachgeholte literarische Archivierung von Gegenwartskultur zu beschreiben,[[20]] lautete: Ich würde als Katalogisierung einer Kultur feiern, was in Wirklichkeit rigiden Selektionsmechanismen unterworfen ist. Autoren wie Thomas Meinecke, Frank Schulz oder Benjamin von Stuckrad-Barre  mögen sozusagen die Akten des Vogelsang meiner Generation anlegen, was sie dabei archivieren, sei aber stets nur ein Ausschnitt, der unter bestimmten, z.B. sozialen, Aspekten durchaus problematisch sei. Die Offensichtlichkeit überlieferter Texte, so klagte schon Luhmann, "verdeckt, daß es andere Möglichkeiten gegeben hatte."[[21]] Das ist einerseits richtig. Andererseits aber könnte man einen Text ja gar nicht lesen und schon gar nicht verstehen, wenn man nur seine syntagmatische Achse vor sich hätte. Das bedeutet aber, daß kein Text ohne seine Alternativen bestehen kann; er verdeckt nicht nur nicht, daß es andere Möglichkeiten gegeben hatte, sondern er setzt diese Möglichkeiten zu seinem Verständnis gerade voraus und legt sie damit jeder späteren kommunikativen Anknüpfung potentiell auch wieder mit vor. Andernfalls verlöre er geradezu seine Textualität. Selbst der hochkulturstiftende Gesetzestext, an den Luhmann (mit Jan Assmann) zu denken scheint, etwa das 5. Buch Mose, setzt mit jeder Vorschrift voraus, daß man es auch anders machen kann (aber nicht soll), und mit jeder Aussage, daß es auch anders sein könnte (aber nicht ist),[[22]] und Gesellschaften, die die schriftliche Version als verpflichtend aufrechterhalten wollen, müssen zusätzlich Kontroll- und Sanktionsmechanismen entwickeln, z.B. eine Inquisition einsetzen, um die reine Lehre zu bewahren.[[23]]

Meine Begeisterung über die popliterarischen Kataloge von Namen aus Popmusik, Marken- und Medienkultur und anderen Bestandteilen einer Enzyklopädie, die von der deutschen Literatur zuvor allenfalls mit spitzen Fingern angefaßt worden war, bezog sich also zunächst einmal schlicht darauf, daß diese Dinge überhaupt Eingang in die Literatur fanden. Das Vergleichsarchiv, das Leser von Literatur – auch die professionellen – damit heranzuziehen gezwungen sind, um ihren Texten gerecht zu werden, wurde mit dem Erfolg dieser Popliteratur nach 1995 irreversibel um weite Bereiche unserer globalisieren Gegenwartskultur erweitert. Und zu diesem Vergleichsarchiv gehören dann eben nicht bloß diejenigen Bands und Marken, die in den jeweiligen Texten explizit genannt werden, sondern auch jene, zu denen sie im popkulturellen Referenzsystem in Äquivalenz- oder Oppositionsbeziehungen stehen. Und nur weil das so ist, weil einzelne Textstrategien eben ein ganzes Archiv aufzurufen imstande sind, lassen sich in einem zweiten Schritt dann auch die Selektionskriterien benennen und kritisieren, die den jeweiligen Popliteraten und seine Texte kennzeichnen. Damit tut man  im Grunde nichts anderes, als diesem Text vor dem von ihm selbst definierten semiotischen Hintergrund zu semantisieren, also: ihn richtig zu lesen.

Kurz: Die Beschreibung von textuellen Selektionsvorgängen ist, strukturalistisch gefaßt, die Definition von Paradigmen. Archivanalytisch gesprochen bedeutet das die Erfassung von Äquivalenzstrukturen im Archiv. Im Vergleich mit den entsprechenden Okkurrenzen in anderen Texten wird die manifeste Textstelle semantisiert. Das ist genau das, was eine kulturwissenschaftliche kontextualisierende Literaturwissenschaft tut.[[24]] Und dabei gilt schlichterdings, wenngleich ernüchternderweise: Was nicht im Archiv ist, kann auch nicht gelesen werden, weder als manifester Text noch als Vergleichstext.


VI


Hier liegt nun ein Einwand nahe, nämlich der, daß insbesondere historische Archive ja niemals vollständig sind, daß viele Dinge einer Kultur – wie der Alltag von Frau Krumhardt und ihren Kindern – niemals aufgezeichnet werden und daß selbst von den Aufzeichnungen und anderen objektförmigen Zeugnissen die allermeisten im Verlaufe der Historie zerstört werden oder anderweitig verlorengehen. "Archive, digitale zumal,", behauptet etwa Martin Warnke ganz grundsätzlich, "überdauern nur, wenn sie ständig benutzt werden, wenn eine erhaltende Instanz sie stets neu kodifiziert, interpretiert und bewertet".[[25]] Das allerdings scheint mir, über technische Probleme des Erhalts von Datenträgern hinaus, so nicht zutreffend. Ein Archiv ist kein Gedächtnis. Was im Archiv ist, kann prinzipiell immer auch gelesen werden, selbst wenn es nie dazu gedacht war oder Codes und Lesegeräte erst mühsam rekonstruiert werden müssen. Die ägyptischen Hieroglyphen-Inschriften und –Papyri etwa wurden jahrhundertelang weder gelesen noch benutzt. Nur aufgrund ihres reinen Objektcharakters, sozusagen als un-semantisierte Objekte, haben sie überdauert und können heute wieder Teil eines Archivs, also von Vergleichs- und Semantisierungsoperationen sein. Der Rosetta-Stein, ohne den wir vermutlich bis heute diese Schrift nicht lesen könnten, hat als Teil einer Steinmauer überdauert, manche mittelalterliche Texte kennen wir nur, weil sie zufällig auf ein Material geschrieben wurden, das sich später zum Einbinden von Büchern eignete. Archiv und Gedächtnis sind also zu unterscheiden.

Dennoch bleibt das Faktum, daß niemals die Gesamtheit einer Kultur überliefert wird, und damit die Frage: Wie komme ich zu Hypothesen darüber, was nicht im Archiv ist und warum es nicht im Archiv ist? Es versteht sich ja am Rande, daß Krumhardt seine Erinnerungen an den Vogelsang ebenso wie Stuckrad-Barre seine Mikroenzyklopädien der Popkultur zugleich sammelt und generiert. Sie schaffen die Archivdaten zugleich mit ihrer Vertextung.  Ebenso klar ist aber etwa seit Nietzsche, daß es aus diesen Daten keinen Weg zurück zu einem Eigentlichen und Ursprünglichen gibt, daß hier vertextet wurde. . Il n’ya pas dehors-texte – es gibt kein Draußen des Archives; die hermeneutische Figur einer ‚Übersetzung aus einem verlorenen Urtext’ (Günter Eich) ist von vornherein falsch konzipiert, und wir können auch präzise benennen, warum: weil man nicht mit etwas vergleichen kann, was nicht da ist. Nur im Vergleich mit anderen Sequenzen des Archivs aber lassen sich Lücken und Leerstellen in seinen Texten benennen.

Normalerweise erfolgt die Detektion solcher Lücken und Auslassungen vermutlich eher intuitiv. Von den Knochen, Fraßspuren und Fußabdrücken schließen wir auf die Dinosaurier und ihr Leben. Wenn in den Aufzeichnungen einer Kultur keine Frauen vorkommen, wenn Lederschuhe im Archiv sind, aber nirgends Informationen über Gerber, wenn eine Generation im Poproman nur über ihre Abiturienten repräsentiert wird, als gäbe es keine Hauptschulabbrecher, dann ahnen wir etwas von den Selektionsmechanismen der Aufzeichnung und Überlieferung. Damit hat man sich jedoch bereits in jene hermeneutisch-anthropologische Grundhaltung begeben, die immer schon davon ausgeht, daß das Wesen des Menschen, der Welt und der Gesellschaft im Grunde bekannt ist, und von dort aus ist es dann nicht mehr weit zum naturalistischen Fehlschluß, unsere Aufzeichnungen repräsentierten sozusagen immer Natur minus x. Diese Art von hermeneutischer Gewißheit taugt aber bestenfalls als pragmatische Abkürzung jener semiotischen Prozesse, wie sie der Strukturalismus einklagt, eine Abkürzung, die auf dem intuitiven Vergleich mit dem eigenen kulturellen Horizont beruht. Dabei geht sie davon aus, daß (a) dieser eigene Horizont sozusagen vollständiger ist als der der untersuchten Kultur und daß, wie gesagt, (b) die Dinge dabei im wesentlichen gleich geblieben sind. So unerläßlich solche Kurzschlüsse in der Praxis sein mögen, methodisch-theoretisch lauern hier überall die bekannten hermeneutical fallacies. Demgegenüber ist mit Baecker auf einer semiotischen Praxis des Kulturvergleichs zu bestehen, die ja als textuality of history auch an der Wiege von kulturwissenschaftlichen Ansätzen wie des New Historicism gestanden hatte.

Lücken im Archiv sind archivimmanent nicht festzustellen. So wie Lücken im Text sich nur durch den archivimmanenten Vergleich mit anderen Texten benennen lassen, lassen sich Lücken im Archiv methodisch zureichend nur durch den Vergleich mit anderen Archiven erschließen. Alles andere ist geschummelt. Zusätzlich müßte eine Texttheorie, die ja ausschließlich synchron funktioniert, eine Schnittstelle zu einer systemischen Theorie diachroner Entwicklung aufweisen. Nur so könnte – jenseits vermeintlicher anthropologischer Gewißheiten – eine Kontinuität zwischen den Archiven formuliert werden.

Ausgerechnet der Vergleich mit dem eigenen Archiv, so nahe er intuitiv liegen mag, erscheint mir dabei nicht als die geeignetste Lösung. Gerade das eigene Archiv läßt sich ja prinzipiell niemals vollständig positivieren. Von daher ist die heute gängige Forderung an den Kulturwissenschaftler, jeweils die Bedingungen des eigenen Standpunktes explizit zu machen, so sympathisch wie naiv. Um zu vergleichen, braucht man vielmehr immer einen Standpunkt außerhalb, Baeckers Standpunkt des Intellektuellen. Textualistisch gefaßt ist das der Standpunkt jenes Roland Barthes’schen Lesers "ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie", "der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt"[[26]] – der Standpunkt der Wissenschaft. Archivanalyse wird aus der Vogelperspektive betrieben. Was aber sieht man von dort? Kein irgendwie historisches Apriori, sei es diskursiv, medial oder anthropologisch, sondern: ein weiteres, ein Vergleichsarchiv. Auf dem Tisch liegen also jetzt zwei oder mehrere Archive, die sich miteinander vergleichen lassen. Hypothesen über Lücken im Archiv sind Ergebnis einer solchen Vergleichsoperation.

Wieder sei hier am Rande auf das Problem der Komplexität hingewiesen: Nicht alles kommt ins Archiv, aber es kommt in der Regel unendlich viel mehr hinein, als wir, seine Benutzer, je bewältigen könnten. Das betrifft einen weiteren Aspekt unseres Themas; denn die Selektion jener Paradigmen, für die wir uns interessieren, und jener Werke, zu deren Interpretation wir sie in der "vastness of the archive" (Greenblatt) aufspüren wollen, ist dann in der Tat eine Funktion der eigenen Kultur, z.B. der Wissenschaftskultur. Das ist aber nicht zu verwechseln mit einem vitiösen Hineinlegen von Vorannahmen, von eigenen Paradigmen in die fremde Kultur, denn fündig werden wir ja, wenn überhaupt, nur in der positiven Materialität des jeweiligen historischen Archivs – oder eben gar nicht. Und man wird auf Quantifizierungen im Rückgriff auf das Gesamtarchiv nicht verzichten können, wenn man die Frage der Repräsentativität der eigenen kulturwissenschaftlichen Befunde methodisch zureichend beantworten will. Daher, wie gesagt, das Bedürfnis nach digitalen Archiven.


VII


Der Verdacht, Archive seien sozusagen in der Regel Werkzeuge aktiver, machtpolitisch gesteuerter Selektion, scheint mir eher ein links-romantischer Topos zu sein. Selbstverständlich gibt es in der Geschichte immer wieder kulturpolitische Ordres, die den Ausschluß und manchmal sogar die Vernichtung bestimmter kultureller Segmente bezwecken. Allein dadurch aber, daß sie, als aktive inquisitorische Maßnahmen, explizit werden müssen, hinterlassen solche Eingriffe jedoch in der Regel Spuren: Befehle, Aktenvermerke, Begründungen, Schwärzungen und andere Palimpseste – denken Sie an jene unheimlichen Auren, die die wegretuschierten Personen auf den Gruppenbildern der Stalin-Ära hinterlassen. Schwarze Listen (also Kataloge) werden angelegt, Giftschränke, ja Museen der zu vernichtenden Kultur. Und dabei ist noch gar nicht von den Dokumenten des Widerstandes die Rede, den solche archivpolitische Unterdrückung regelmäßig hervorruft. Aktive Unterdrückung ist zumindest seit der Moderne einer der wichtigsten Diskurs- und Vertextungsanlässe überhaupt. Man könnte geradezu behaupten: Je ausdrücklicher etwas aus dem Archiv einer gegebenen Kultur verdrängt werden soll, desto nachhaltiger wird es sich in dieses Archiv einschreiben – gespenstisch vielleicht, aber darum nicht weniger machtvoll.

Nein, die Verlustquote bei der Archivierung der Geschichte scheint mir in der Regel sehr viel banaleren Ursprungs: Wie in Raabes Vogelsang gehen die Dinge dabei zuerst ihres Gebrauchswertes, ihrer Kontiguitätsrelationen verlustig, und dann auch noch ihres Erinnerungswertes, ihrer paradigmatischen Dimension. Am Ende stehen sie in keinerlei textuellen Zusammenhängen mehr und somit quasi außerhalb der Kultur und werden folgerichtig als Müll aussortiert. Es überlebt nur, was – als Baumaterial oder Buchumschlag – sekundäre Verwendung findet, oder was in Erdschichten oder Dachkammern zu liegen kommt, wo es niemanden stört, oder Dinge wie die Bunker des 2. Weltkriegs, deren Zerstörung einfach zu teuer ist. Selbst in aestheticis scheint mir, eher als Museumspolitik, der Fall der grottenhäßlichen Badezimmerkacheln und Deckenlampen paradigmatisch, die wir beim Einzug in die Altbauwohnung selbstverständlich als erstes hinauswerfen. Manchmal beschleicht einen dabei kurzzeitig das Gefühl, die Enkel oder Urenkel könnten einen einst dafür verdammen.

Ins Archiv gelangt dagegen, was auch jenseits seines Gebrauchswertes mit Kontiguitäts- und Äquivalenzrelationen versehen bleibt, sprich: was vertextet wird. Dazu eignet sich insbesondere auch die Literatur, die schon Gadamer definiert als "Texte, die nicht verschwinden", die vielmehr "in ursprünglichem und eigentlichem Sinne Text sind", weil sie nicht im Verstandenwerden sub specie communicationis, sondern erst im wiederholten Zurückkommen auf sie "eigentlich da" sind.[[27]] Womit mein Vortrag beinahe mit einer Tautologie endet; denn als Text hatten wir ja definiert, was erstens als Objekt (noch) vorhanden und zweitens lesbar ist. Lesbarkeit aber bedeutet Semantisierung im Bezug auf ein Vergleichsarchiv und also – siehe Baecker – die Poiesis von Kultur. Kulturwissenschaftliche Analyse als literaturwissenschaftliche Praxis wäre demnach als Archivanalyse im Modus der Textualität zu konzipieren. Einfacher, meine ich, sind kulturelle Kontexte analytisch nicht zu haben.

In neuerer Literatur zum Archiv stößt man nicht selten auf kritisch-pessimistische, ja apokalyptische Untertöne. Derrida etwa klagt:

selbst in dem, was die Archivierung ermöglicht und bedingt, werden wir niemals etwas anderes finden als das, was der Destruktion aussetzt und wahrlich mit Destruktion bedroht, indem es a priori das Vergessen und das Archiviolithische in das Herz (coeur) des Monumentes einführt.[[28]]

Demgegenüber könnte unser pragmatischer Archivbegriff entdramatisierend wirken. Auch er betont zwar die Zerstörbarkeit der Archive, aber damit ist höchst unmetaphorisch die materielle Zerstörbarkeit der Datenträger gemeint. Solange Texte aber in einem intakten Archiv aufbewahrt sind, sind sie a priori weder vergessen noch zerstört. Sie sind der materielle Ausgangspunkt jeder Analyse, auch jeder Analyse des Vergessens. "Potentielle Aktualität", sagt Wolfgang Ernst, "ist der Aggregatzustand, in dem die Archivdaten verharren – eine Lage radikaler Latenz."[[29]] Sie sind prinzipiell verfügbar, selbst wenn sie lange nicht oder überhaupt noch nie gelesen wurden. Fürchtet euch nicht, könnten sie sagen, wir sind alle noch hier.

 

Prof. Dr. Moritz Baßler
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Germanistisches Institut
Domplatz 23
D-48143 Münster
Tel. 0251-8324442 oder 0381-4908003 (priv.)
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Zum Korreferat



[1]           Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs. Erzählung. Anm. v. M. Ritterson, Nachw. v. W. Preisendanz. Stuttgart 1988, S. 166.

[2]           Raabe: Die Akten des Vogelsangs, l.c.

[3]           Velten Andres wird im Roman sowohl mit Lord Byron als auch mit einem Affenmenschen verglichen.

[4]           Diese Pointe der Rettung durch Vertextung entgeht Eberhard Geisler, der in dieser Szene die Idyllik des Poetischen Realismus in Flammen aufgehen sieht (E.G.: Abschied vom Herzensmuseum. Die Auflösung des Poetischen Realismus in Wilhelm Raabes Akten des Vogelsangs. In: Leo A. Lensing/Hans-Werner Peter (Hg.): Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Braunschweig 1981, S. 365-380).

[5]           Laurie Anderson: Same Time Tomorrow. Auf: The Ugly One With The Jewels And Other Stories. Warner Brothers 1995.

[6]           Mikhail M. Bakhtin: The Problem of the Text in Linguistics, Philology, and the Human Sciences. An Experiment in Philosophical Analysis. In: M.B.: Speech Genres and Other Late Essays, S. 103-131; S. 103.

[7]           Vor allem in den Abschnitten II und III referiert und zitiert der vorliegende Vortrag aus meinem Buch: Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005.

[8]           Dirk Baecker: Wozu Kultur? Berlin 2000, S. 47.

[9]           Baecker: Wozu Kultur?, S. 48.

[10]          Baecker, Wozu Kultur?, S. 67.

[11]          Insofern kann es nicht wirklich verwundern, daß Eckhard Henscheid in satirischer Absicht hunderte sogenannter Kulturen zusammentragen konnte (Eckhard Henscheid: Alle 756 Kulturen. Eine Bilanz. Frankfurt 2001).

[12]          Baecker: Wozu Kultur?, S. 17f.

[13]          Vgl. Paul Rabinow: Representations Are Social Facts. Modernity and Post-Modernity in Anthropology. In: Clifford/Marcus (Hg.): Writing Culture, S. 235-261; S. 241.

[14]          Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt 41990, S. 186f.

[15]          Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt 1999, S. 179.

[16]          Foucault: Archäologie des Wissens, S. 182.

[17]          Wolfgang Ernst: "Nothing but Text"? Wissensarchäologische Anmerkungen zum Verhältnis von Kultursemiotik, New Historicism und Archiv. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1997, S. 290-306; S. 290.

[18]          Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002, S. 49.

[19]          Vgl. Fußnote 6.

[20]          Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002.

[21]          Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt 1997, S. 889.

[22]          "Wer darauf verweist, daß für ihn noch die Regel gilt, Whisky nur nach sechs Uhr abends zu trinken, macht damit darauf aufmerksam, daß man damit auch früher schon beginnen könnte." bemerkt auch Baecker in seiner Fortführung von Luhmanns Kulturtheorie (Dirk Baecker: Wozu Kultur?, S. 24).

[23]          Hier ist eine Verbindung zu den insbesondere von (und im Anschluß an) Foucault vieldiskutierten Macht-Aspekten von Kultur.

[24]          "Kontext ist ein zumindest dreigliedriger relationaler Ausdruck (A ist Kontext für B in Hinsicht auf C", expliziert auch Lutz Danneberg (Kontext. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin/New York 2000, S. 333-337; S. 333).

[25]          Martin Warnke: Digitale Archive. In: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002, S. 269-281; S. 280.

[26]          Roland Barthes: Der Tod des Autors. In. Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften Frankfurt 2002, S. 104-110; S. 110.

[27]          Hans-Georg Gadamer: Text und Interpretation. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. München 1984, S. 24-55; S. 46.

[28]          Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997, S. 26.

[29]          Ernst: Das Rumoren der Archive, S. 122.