2. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie, 24.06.2005

Fotis Jannidis

Analytische Hermeneutik

 

Meine Damen und Herren,

 

Wenn die soziale Aura von Worten zu schmecken wäre, dann würde 'Hermeneutik' wie 'Autor', 'Intention' oder 'Subjekt' muffig und modrig, nach verblichener Unfrische schmecken. Heute über Hermeneutik zu reden, und das nicht in archivarischer Absicht, im Modus des "Es war einmal ...", heute über Hermeneutik zu reden, als wäre sie etwas Gegenwärtiges, ja Zukunftweisendes, bedeutet vor allem auch gegen eine erfolgreiche, weil verinnerlichte Geschichtskonstruktion anzureden, der zufolge man das Abgelebte, das Gestrige bequem und treffend unter diesem Etikett versammeln kann. Die Zukunft gehört, so die Hauptlehre dieser großen Erzählung, nur den Antihermeneutikern. Nun sind diese schon bei oberflächlicher Betrachtung ein höchst buntes Völkchen, wo lektüreverliebte Kanonfetischisten neben akronymversessenen Szientisten, eklektizistische Modebewußte neben politisch höchst korrekten Machttheoretikern allesamt der Hermeneutik eins aufs Haupt geben.

 

Ich finde es selbst nicht ganz leicht, diesem allgemeinen Zug der Zeit zu wiederstehen, da diese Abgrenzung ein so integraler Aspekt unseres Expertenstatus geworden ist. Schreibt man etwa nicht ganz automatisch die Frage "Was will uns der Autor damit sagen?", die doch nur naive Leser stellen, einer Art Popularhermeneutik zu? Deshalb will ich auch dem Folgenden ein bewährtes Motto voranstellen:

 

Es ist ein großer Unterschied zwischen etwas noch glauben und es wieder glauben. Noch glauben, daß der Mond auf die Pflanzen würke, verrät Dummheit und Aberglaube, aber es wieder glauben zeigt von Philosophie und Nachdenken.[1]

 

Aber woran glaubt man überhaupt, wenn man Hermeneutik sagt? August Boeckh etwa sieht ihren Kern in der "Verständlichmachung der Rede eines anderen".[2] Genauer gesagt: Die Hermeneutik ist die Theorie einer Auslegekunst, deren höchstes, wenn auch unerreichbares Ziel eben diese Übersetzungsleistung ist. "Es kommt aber in der Hermeneutik nicht sowohl auf die Auslegung, sondern auf das Verstehen selber an, welches durch die Auslegung nur explicirt ist."[3] So mein Gewährsmann Boeckh in seinen Vorlesungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich also, leidlich modern gesprochen, um eine Theorie sprachlicher Kommunikation über Texte, die folgende Merkmale aufweist:

 

1) Mit dem Begriff des 'Verstehens' wird eine Ähnlichkeitsbeziehung angenommen zwischen zwei Bedeutungszuschreibungen: der des Autors und der des Lesers.

 

2) Diese Bedeutungszuschreibung kann von einem Beobachter regelgeleitet ermittelt werden.

 

Bevor ich auf einige der sich daraus ergebenden Aspekte genauer eingehe, will ich gleich festhalten, daß ein Etikett wie 'analytische Hermeneutik' nicht den Anspruch impliziert, daß literarische Texte nur in diesem Kontext ihrer Kommunikation untersucht werden sollten. Es gibt zahlreiche andere Kontexte, die mit fruchtbaren Ergebnissen für literaturwissenschaftliche Untersuchungen herangezogen worden sind. Jede Äußerung kann z.B. immer auch auf symptomatische Aspekte hin analysiert werden: Dialektale Besonderheiten des Sprechers, die Satzlänge und Wortvielfalt in Texten, die Einstellung gegenüber besonderen sozialen Gruppen usw. Ein weiterer häufig untersuchter Kontext sind die semantischen Vorräte, aus denen sich der Urheber einer Äußerung bedient hat, etwas das was Ideengeschichte, Diskursanalyse, Stoff- und Motivgeschichte usw. untersuchen.

Diese anderen Kontextualisierungen sind also sicherlich nicht unfruchtbar. Aber im Gegensatz etwa zu einigen Vertretern der Diskursanalyse bin ich durchaus davon überzeugt, daß damit ein Verständnis von Texten als intentionale Äußerungen nicht obsolet geworden ist. Im Gegenteil: Ich werde im folgenden versuchen zu zeigen, daß ein solches Verständnis eine privilegierte Kontextualisierung ist, weil unser alltägliches Kommunikationsverhalten darauf ausgerichtet ist.

[ironisch:]

Zur Klärung will ich in mehreren Schritten vorgehen. Der erste Schritt wird, ganz klassisch, zeigen, wie ein anderer dieses Problem gelöst hat und aus welchen Gründen mich diese Lösung nicht überzeugt. Dann kommt ein Abschnitt, der erörtert auf Grundlage welcher Rahmentheorie man dieses Problem vielleicht effektiver lösen kann. Zuletzt diskutiere ich einige Probleme, die sich in der besonderen Anwendung dieser Rahmentheorie auf unsere Fragestellung ergeben.

 

I.

Signatur Ereignis Kontext gehört zu den bekanntesten Texten Derridas. Deshalb will ich ihn hier nicht ausführlich rekonstruieren, sondern nur die wichtigsten Argumente seiner Kritik am hermeneutischen Modell der Kommunikation wiederholen.

 

Derrida rekonstruiert ein klassisches Modell sprachlicher Kommunikation – sein Gewährsmann dafür ist der Aufklärungsdenker Condillac –, um es dann gründlich zu erledigen. Dieses klassische Modell sieht im Gespräch, also der mündlichen Kommunikation von zwei Menschen, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit sich in einer gemeinsamen Situation befinden, den Ursprung und den Bestimmungspunkt aller Kommunikation. Die Präsenz der geteilten Situation bildet den Kontext, der die Bedeutung des Geäußerten stabilisiert. Die schriftliche Kommunikation zeichnet sich demgegenüber durch die Abwesenheit des Empfängers aus. Diese Abwesenheit wird bestimmt als schrittweise "Entkräftung der Anwesenheit"; 'schrittweise' nur weil die schriftlichen Zeichen dieser Entkräftung entgegenwirken. In dieser Gegenbewegung ergänzen sie als Repräsentation die fehlende Anwesenheit. Die sprachlichen Zeichen leisten also in diesem klassischen Modell eine Vergegenwärtigung des Abwesenden:

Die Kommunikation transportiert demnach eine Repräsentation als idealen Inhalt (was man den Sinn nennen wird); und die Schrift ist eine Art dieser allgemeinen Kommunikation.[4]

Das besondere an der Schrift, ihre spezifische Differenz ist die Abwesenheit. Bekanntlich verkehrt Derrida nun im folgenden die Schwerpunkte: In der Abwesenheit der Schrift zeige sich eine prinzipielle Eigenheit aller sprachlichen Zeichen, nämlich ihre Iterierbarkeit, die stets einen Überschuß der sprachlichen Zeichen gegenüber der besonderen Kommunikationssituation, in der sie verwendet werden, mit sich bringt. Daraus ergibt sich für ihn dann der "Bruch mit dem Horizont der Kommunikation als Kommunikation von Bewußtheiten oder Anwesenheiten und als sprachlicher oder semantischer Transport des Sagen-Wollens".[5] Weil Schrift iterierbar ist, ist sie stets mehr als Repräsentation einer Intention und bricht so mit der Intention und dem ganzen "hermeneutischen Horizont".

 

Die Leistungsfähigkeit des Konzepts Iterierbarkeit ist für Derrida offensichtlich sehr groß; mit ihm steht und fällt die These von der Ablösung der Schrift vom Kontext und der Intention. Schauen wir uns das Konzept also etwas genauer an.

 

Die Funktion von Schrift ist Lesbarkeit. Damit Schrift diese Funktion erfüllen kann, muß sie wiederholbar sein. Diese Wiederholbarkeit wäre sogar vorhanden, wenn es überhaupt keine empirischen Empfänger geben würde. Derrida unternimmt ein Gedankenexperiment: Angenommen es gebe eine Geheimschrift, die nur zwei Menschen bekannt wäre; würde man nach dem Tod der beiden immer noch davon sprechen, daß es sich hierbei um eine Schrift handle? Er beantwortet die Frage mit ja. "Die Möglichkeit, die Zeichen zu wiederholen und damit zu identifizieren, ist in jedem Code impliziert, macht aus ihm ein kommunizierbares, übermittelbares, entzifferbares Raster, das für einen Dritten, also für jeden möglichen Benützer [!] überhaupt, iterierbar ist." (25)

 

Worauf ich hier nicht weiter eingehen will, ist die offenkundige Tatsache, daß Derrida an dieser Stelle die paratextuellen Signale ausblendet, die bei der Wahrnehmung von Artefakten überhaupt erst den Verdacht nahelegen, daß es sich um Schrift handelt.

 

Mir geht es vielmehr um die Frage, warum er diesen Umstand so wichtig findet. Searle reibt sich in seiner Antwort auf Derrida etwas verdutzt die Augen: Die Differenz von Type und Token sei doch längst bekannt und ihre Relevanz für die Funktion von Schrift begriffen, warum hier diese Aufregung?

 

Die Aufregung ist m.E. nur zu verstehen, wenn man sich noch einmal vor Augen hält, was für ein Kommunikationsmodell Derrida angreift:

 

"Die Kommunikation transportiert demnach eine Repräsentation als idealen Inhalt"

 

'Repräsentation' ist hier ganz wörtlich zu nehmen: Als erneute Vergegenwärtigung. Etwas, das präsent war, wird erneut präsent. Diese Präsenz der Sprechersituation mit ihrem Kontext, mit der "Gesamtheit der Anwesenheiten, das den Moment seiner Einschreibung organisieren" ist etwas zeitlich Gebundenes und vor allem Einzigartiges. Nach dem klassischen Modell, wie Derrida es rekonstruiert, kann diese Singularität nun verpackt und transportiert werden, um an einem anderen Ort zu einem anderen Zeitpunkt wieder präsent zu sein. Für solch ein Modell ist der Nachweis, daß das Transportvehikel aber immer schon nicht-singulär ist, tatsächlich tödlich.

 

Man könnte nun untersuchen, in welch bizarre Abhängigkeit vom kritisierten Modell sich Derrida durch seine Analyse begibt. Sein Anspruch, daß Schrift mit dem Kontext und der Intention des Autors immer schon bricht, ist ja nur gültig, wenn man seine Kritik akzeptiert, vor allem aber: wenn man das klassische Modell in seinen Grundzügen akzeptiert. Er übernimmt ja die enge Bindung der Bedeutung einer Äußerung an die sprachliche Bedeutung des Gesagten, denn nur so ist seine These plausibel. Man könnte nun also die Eingangsfrage seines Vortrags beantworten. Sie lautet:

 

"Ist es denn sicher, daß dem Wort Kommunikation ein einzelner, eindeutiger, streng beherrschbarer und übermittelbarer: kommunizierbarer Begriff entspricht?"[6] Unsere Antwort könnte lauten: Nein, das ist nicht sicher, aber nicht, weil eine allgemeine Verunsicherung herrscht, sondern weil Kommunikation nicht übermittelt.

 

II.

Gegen die Auffassung, Kommunikation sei ein Art Transport (und sei es auch ein nicht funktionierender), gegen eine solche Päckchentheorie spricht vieles. Eine solche Theorie müßte zeigen können, daß die Zuweisungsregeln beim Einpacken der Nachricht, also der Code, beim Auspacken zur Gänze zur Verfügung stehen. Aber schon ein so einfacher Sachverhalt wie das Verständnis von Pronomina oder die Auflösung von Mehrdeutigkeiten auf lexikalischer Ebene läßt sich nicht als Bedeutungskonstitution aufgrund eines Codes oder einer genauen Regel verstehen.

 

Neben der "Päckchentheorie" existiert seit geraumer Zeit ein gänzlich anderes Modell, das man als "Amöbentheorie" bezeichnen könnte. "Amöben" - im Plural - wir brauchen nämlich zwei: zwei abgeschlossene Systeme. Das eine verändert durch sein Verhalten die Umwelt des anderen. Dieses zweite versucht sich einen Reim darauf zu machen: es deutet die Veränderungen. Nun gibt es Veränderungen, die dergestalt sind, daß es nicht leicht ist, festzustellen, ob diese Veränderung intentional ist und wenn sie das ist, ob sie kommunikativ zu verstehen ist. Für unsere momentanten Belange können wir uns auf diejenigen Veränderungen beschränken, deren Doppelsignal m.W. zuerst Grice analysiert hat: Der Sprecher sagt etwas in einer bestimmten Situation und verändert damit die Umwelt des Zuhörers (zusammenfassend Äußerung X), so daß – aus der Perspektive des Zuhörers – zwei Annahmen naheliegen:

 

1) Der Sprecher äußert X, damit ich X die Bedeutung Z zuweise

2) Ich bilde aufgrund von X die Bedeutung Z.

 

Anders ausgedrückt: Diese Arten der Veränderung legen aus der Sicht des Rezipienten immer nahe, daß es sich um bewußte intendierte Kommunikation mit dem Inhalt Z handelt. Dan Sperber und Deidre Wilson, Autoren der Relevanztheorie, haben diesen Gedanken weiterentwickelt. Wenn der Hörer von der Äußerung X auf Z schließen soll, dann bedeutet das, daß X die effektivste Art und Weise ist, Z als Resultat hervorzubringen. Sie nennen das das Relevanzprinzip: "Jeder Akt ostensiver Kommunikation kommuniziert die Annahme seiner optimalen Relevanz."[7]

 

Diese Unterstellung von Relevanz wiederum reguliert den Weg von der Äußerung X zum Gemeinten Z. Dieser Weg besteht nicht im Übersetzen mittels einer einfachen Regelliste, wie es das Codemodell nahelegt, sondern beruht auf Inferenzen. Unter Inferenzen sind alle Formen von Schlußfolgerung zu verstehen, seien es nun streng deduktive, oder aber auch relativ weiche, probabilistische und fallible.

 

Die Inferenzen beruhen in wesentlichen Teilen auf den verwendeten Codes, aber sie sind ein eigenständiger Verarbeitungsschritt. Im Anschluß an Grice haben Linguisten und Kognitionswissenschaftler folgendes Modell entworfen: Zuerst verarbeitet eine semantische Einheit die Eingabe und gibt die ausgedrückten Propositionen, die wörtliche Bedeutung des Gesagten aus. Diese Ausgabe wird wiederum zur Eingabe einer pragmatischen Einheit, die daraus durch Einbeziehung des kommunikativen Kontextes und der Konversationsmaximen die vom Sprecher intendierte Bedeutung, also z.B. Ironie, Metaphern und ähnliches mehr ermittelt. Stephen Levinson revidiert dieses Modell, indem er plausibel machen kann, daß bereits bei der Ermittlung des propositionalen Gehalts pragmatische Verarbeitungsschritte notwendig sind, etwa zur Disambiguierung von Ausdrücken oder zur Referenzermittlung.[8] Er schlägt deshalb aber nicht vor, eine einzige semantisch-pragmatische Verarbeitungseinheit anzunehmen, wie Sperber / Wilson das tun, sondern ein mehrstufiges Modell, in dem sich semantische und pragmatische Verarbeitungseinheiten abwechseln und die Ausgabe der einen Einheit die Eingabe der nächsten Einheit darstellt.

 

Ein interessantes Modell, könnte man einwenden, aber inwieweit ist es für die Arbeit des Literaturwissenschaftlers relevant? Die Kommunikation mittels literarischer fiktionaler Texte unterscheidet sich ja in mindestens drei Hinsichten von Alltagskommunikation:

 

1) Literarische Kommunikation ist eingebettete Kommunikation: Figurenrede, lyrisches Ich, Erzählerstimme sind systematisch zu unterscheiden vom realen Autor. Entsprechend sind stets zwei Kommunikationssituationen zu bedenken.

 

2) Bedeutung literarischer Kommunikation kann mehrstufig sein. Die Sätze einer Erzählung ermöglichen zuerst einmal die Imagination einer fiktiven Welt. Dieser ersten Bedeutung können weitere hinzugefügt sein; diese weiteren Bedeutungen können, etwa durch die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, relativ einfach kodiert sein, können aber auch, wie im Bereich der Hochliteratur seit dem Sturm-und-Drang sehr häufig, ihre eigenen Bedeutungsregeln konstituieren.

 

3) In literarischer Kommunikation spielen ästhetische Aspekte eine größere Rolle, ja sie können in bestimmten Feldern die überwiegende Funktion des Textes darstellen.

 

Alle drei Unterschiede sind jedoch keine prinzipiellen Unterschiede, sondern graduelle. Und alle drei Merkmale basieren auf der Weiterentwicklung von Mitteln der Alltagskommunikation. Literarische Kommunikation ist also komplexer, aber sicherlich nichts anderes.

 

Meines Erachtens sind daher die Befunde der Pragmatik auch für Literaturwissenschaftler von Interesse. Erstens ist die Feststellung, daß Bedeutung stets, und schon auf sehr niedrigen Verarbeitungsebenen, im Wechselspiel von pragmatischen und semantischen Einheiten gebildet wird, ein gewichtiges Gegenargument gegen jeden Entwurf einer literarischen Semantik ohne Berücksichtigung der Kommunikationssituation. D.h. jeder Versuch literarische Texte ohne reichen Kontext zu beschreiben, etwa über das literarische Feld oder die paratextuelle Situierung, substituiert tatsächlich nur den ursprünglichen historischen Kontext mit einer Art Standardkontext des Literaturwissenschaftlers, seinen Annahmen darüber wie literarische Zeichenprozesse beschaffen sind oder sein müssen usw.

 

Zweitens kann man annehmen, daß das Wechselspiel von semantischen oder allgemeiner codebasierten und pragmatischen Verarbeitungsschritten gerade bei komplexen Informationsprozessen wie der literarischen Kommunikation und der Bildung dieser satzübergreifenden Gebilde noch weiterläuft. Die Konstituierung von fiktionalen Welten kann wohl nur angemessen erfaßt werden, wenn die Beschreibung um pragmatische Elemente wie Inferenzanalyse, Analyse der kommunikativen Regeln usw. erweitert wird.

 

III.

Sie sehen: Analytische Hermeneutik ist auch ein Forschungsprogramm. Ausgehend von einem plausiblen Modell der Kommunikation geht es um die Rekonstruktion literarischer Kommunikation und ihrer Besonderheiten. Meines Erachtens können wir dafür sehr viel aus der Beobachtung philologischer Tätigkeit lernen, und Unternehmungen wie die Reihe Revisionen, die Simone Winko, Gerhard Lauer und ich herausgeben, zielt auf eben dies.

 

Hier will ich nur noch einen weiteren Baustein ins Spiel bringen, der meines Erachtens für das Verständnis der kommunikativen Inferenzprozesse von zentraler Bedeutung ist: Die Abduktion.

 

Der amerikanische Philosoph Charles Peirce hat vorgeschlagen, mit dem Begriff 'Abduktion' ein Schlußverfahren zu bezeichnen, das neben der Deduktion und der Induktion steht. Ein deduktiver Schluß schließt bekanntlich von der Regel (»Alle Menschen sind sterblich«) und dem Fall (»Sokrates ist ein Mensch«) auf das Ergebnis (»Sokrates ist sterblich«). Diese Art des Schließens ist zwingend und daher für Logiker so befriedigend. Für alle anderen ist es sehr unbefriedigend, daß sich kaum etwas in diese Schlußformel bringen lassen will. Der induktive Schluß folgert von dem Fall und dem Ergebnis auf die Regel. Der Fall »Sokrates ist ein Mensch« zusammen mit dem Ergebnis »Sokrates ist sterblich« legt nahe, daß die Regel lautet »Alle Menschen sind sterblich«. Bekanntlich sind induktive Schlüsse fallibel.

 

Der abduktive Schluß folgert von einem Ergebnis und der Regel auf den Fall:

 

(1) Sokrates ist sterblich.

(2) Alle Menschen sind sterblich.

(3) Sokrates ist ein Mensch.

 

Ein derartiger Schluß ist offensichtlich nicht zwingend; wenn ›Sokrates‹ der Name eines Hundes ist, dann sind (1) und (2) ebenfalls wahr, aber (3) ist falsch. Der Schluß basiert also weitgehend auf Wahrscheinlichkeiten und ist Teil einer Heuristik, die nicht sicheres Wissen produziert, sondern im besten Fall begründete Annahmen. Ein zweiter Umstand vergrößert die Unsicherheit: Im Falle der Verwendung von Zeichen ist (2), also die allgemeine Regel, nicht im Zeichen gegeben, sondern muß aufgrund von Weltwissen ermittelt werden. Gegeben ist nur (1), ein bestimmtes Faktum, und welche Regel nun herangezogen werden muß, um den unsicheren Schluß (3) zu ziehen, ist ebenfalls ganz dem Ratevermögen des Rezipienten überlassen. Zeichenverwendung ist also durch diese doppelte Unsicherheit geprägt: Es muß erraten werden, welche Regel anzuwenden ist, und der daraus zu ziehende Schluß ist keineswegs sicher.

 

Im Fall von Literatur verstärkt sich die Unsicherheit und Vagheit, weil es sich ja zumeist um sekundäre Zeichen handelt: Der materiale Text ist die Grundlage für die Erzeugung der fiktionalen Welt (erste Zeichenebene), deren Phänomene wiederum Zeichen sein können (zweite Zeichenebene). Wenn es z.B. von Hanno Buddenbrooks Mutter Gerda heißt, »in den Winkeln der nahe beieinanderliegenden braunen Augen lagerten bläuliche Schatten«, dann ist das zum einen die Beschreibung der Augen, zum anderen aber charakterisiert es sie als nervösen Typus. Die meisten interpretatorischen Bemühungen konzentrieren sich auf diese zweite Ebene. Neben den bereits genannten Unsicherheiten kommt hier noch eine neue hinzu: Nicht jedes Phänomen der fiktionalen Welt ist ein sekundäres Zeichen; im Gegenteil, wahrscheinlich sind die meisten Phänomene außer in einem sehr vagen Sinne kein sekundäres Zeichen bzw. Teil eines solchen.

 

Die Frage, was ein Zeichen als Zeichen kenntlich macht, stellt sich besonders bei solchen sekundären Zeichen. Ein Objekt – ›Objekt‹ sei hier in einem möglichst weitem Sinne aufgefaßt – ist in einem Kontext gegeben oder hat Eigenschaften, die die Vermutung nahelegen, daß es sich um ein Zeichen handelt. Solche semiotischen Trigger können ganz handfest sein. Ein Beispiel für das Erkennen von primären Zeichen: Wenn ich ein Buch in die Hand nehme und auf das gedruckte Papier blicke, dann läßt mich der Umstand, daß es sich um ein Buch handelt, bereits die Zeichen auf dem Papier erwarten – selbst wenn ich die Buchstaben selbst nicht lesen kann. Das ist der oben bei Derrida angesprochene paratextuelle Kontext. Im Falle von sekundären Zeichen ist dies aber sehr viel unbestimmter. So kann die Reise einer Figur von einer Stadt in die nächste einfach nur die Handlung verlagern oder aber auch ein Zeichen für etwas anderes sein. Semiotischer Trigger könnte in solch einem Fall z.B. die Länge der Reisebeschreibung sein, da zur Handlungsverlagerung eigentlich schon die Angabe des Ortswechsels genügt.

 

›Abduktive Inferenz‹ ist also ein Schlußverfahren zur Identifikation und Bedeutungszuweisung von Zeichen. In einem ersten Schritt wird ein Phänomen als Zeichen identifiziert. Im zweiten Schritt wird eine Regel herangezogen, die zu dem Phänomen paßt. Und im dritten Schritt wird ein Schluß aus Phänomen und Regel gebildet. Die abduktive Inferenz ist an drei Stellen fallibel: Es kann etwas als Zeichen betrachtet werden, das gar keines ist. Die herangezogene Regel kann falsch sein oder zu weit bzw. zu eng formuliert. Der Schluß kann falsch sein. Angesichts dieser Unsicherheit möchte man sich darüber wundern, daß abduktive Inferenzen überhaupt verwendet werden. Andererseits sind sie ökonomisch, weil sie mit wenig Aufwand Kommunikation ermöglichen. Man kann außerdem für jeden Schritt zusätzliche Faktoren angeben, die einen Irrtum weniger wahrscheinlich machen: Einerseits sind das etablierte kulturelle Praktiken zur Identifikation von Zeichen, zu typischen Regelmäßigkeitsannahmen und zu häufigen Schlüssen, andererseits kann man sich auf das Relevanzkriterium im oben ausgeführten Sinne stützen.

 

IV.

Fassen wir kurz zusammen: Nach dem hier skizzieren Modell literarischer Kommunikation in literaturwissenschaftlicher Sicht ist die Bedeutung eines literarischen Textes das Ergebnis eines Inferenzprozesses, der sehr viel unsicherer ist als in normalsprachlicher Kommunikation.

 

Ich komme zum letzten Abschnitt meiner Überlegungen. Oben habe ich Boeckhs Definition von Hermeneutik als "Verständlichmachung der Rede eines anderen" zitiert. Grundlage dafür ist das Verstehen. Verstehen aber, so das Resultat unserer bisherigen Überlegungen, ist das Ergebnis komplexer Inferenzprozesse. Mir erscheint es aus methodischen Gründen wichtig, daß das Verstehen des Literaturwissenschaftlers nicht einfach sein eigenes ist, obwohl offensichtlich eng damit verwoben. Durchgeführt wird dieser Inferenzprozess jedoch nicht von wirklichen Rezipienten - ich bin ja Textwissenschaftler, kein empirischer Literaturwissenschaftler. Vielmehr rekonstruiert ihn ein Literaturwissenschaftler als den Prozess eines idealer Lesers. Ich will hier auf die methodischen Probleme dieses Ansatzes nicht eingehen – wir haben ja im Anschluß  viel Zeit, solche Fragen zu besprechen –, kann Ihnen aber schon einmal versichern, daß die Zuverläßigkeit der Ergebnisse so nicht gerade steil anwächst. Aber mir ist es wichtiger zu verstehen, warum Hermeneutik trotz ihrer langen Tradition ein so unsicheres Geschäft ist, als Ihnen vorzumachen, daß es einen Königsweg gibt, der ganz plötzlich zu sicheren Deutungen führt. Ebenso wichtig scheint es mir aber, daß diese Deutungsprozesse in all ihrer Fallibilität doch in einem weiten Sinne regelgeleitet sind und zumindest für konkurrierende Deutungen häufig skalierbare Aussagen ("Diese ist besser als jene") möglich sind.

 

Kommen wir aber noch einmal zurück zu einem zentralen Konzept, das mit der Hermeneutik stets verbunden ist: Welche Rolle spielt hierbei die Autorintention? Welche Rolle spielt sie für den Idealleser, welche für den Literaturwissenschaftler.

 

Eigentlich gar keine, wenn wir unter 'Autorintention' den realen mentalen Zustand eines Autors während der Niederschrift des Textes meinen. Der ist, wie alle mentalen Zustände, unzugänglich. Was uns, als Beobachter literarischer Kommunikation, aber interessiert, ist Autorintention als Konstruktion des Ideallesers.

 

Gregory Currie vertritt im Kapitel "Interpretation and Pragmatics" von 2004 eine Position, die der hier skizzierten in manchen Punkten recht ähnlich ist. Allerdings lehnt er den Bezug auf die Intention des Autors ab. Seiner Meinung nach stellt Autorintentionalismus zwei Thesen auf:

 

1) Wir verwenden den Text, zusammen mit verschiedenen anderen Dingen, um eine möglichst gute Vorstellung davon zu entwickeln, was der Autor kommunizieren wollte.

 

2) Legitime Interpretationen sind genau diejenigen, die dem entsprechen, was der Autor kommunizieren wollte.[9]

 

Die zweite These lehnt er ab. Ich freue mich natürlich schon einmal darüber, daß wir im ersten Punkt übereinstimmen. Tatsächlich scheint mir aber seine Diskussion des zweiten Punkt unbefriedigend.

 

Seine Argumentation lautet: Wenn man die Bedeutung eines Textes davon abhängig macht, was ein Autor kommunizieren wollte, dann wäre der Text nur eine Quelle für diese Bedeutung. Aber es gäbe andere, die manchmal besser wären. Manchmal kann etwa ein Autor die Absicht haben, eine bestimmte Entwicklung der Handlung zu kommunizieren, aber die von ihm verwendeten Mittel reichen nicht aus. Eine plausible Deutung des Textes kann dann eine sein, die der Autor nie vorhergesehen hat. Tatsächlich vertritt Currie die Meinung, daß der Text üblicherweise eine schlechtere Quelle für die Autorintention sei, da man dort, wenn es sich nicht gerade um sehr didaktische Literatur handelt, keine expliziten Aussagen über die Intention macht. Ganz anders sei dies etwa mit Briefen eines Autor. –

 

Schon hier ist man versucht, einzugreifen: Was für eine Bedeutung eines literarischen Textes könnte das denn sein, die sich in einem Brief besser äußern läßt als im literarischen Werk, wenn es sich nicht gerade um sehr didaktische oder agitatorische Literatur handelt. Aber lassen wir das einmal dahingestellt. –

 

Currie vertritt nun die Position, daß ein Interpret, der sich auf Briefe, Tagebücher und andere Quellen stützt, um eine Intention zu rekonstruieren, die sich im Werk nur teilweise oder fehlerhaft findet, der Interpret eines anderen hypothetischen Werks sei: das Werk, das der Autor geschrieben hätte, wenn seine Absicht geglückt wäre. Man könne diesen Unterschied auch mit der Unterscheidung von Äußerungsbedeutung und Sprecherbedeutung (utterance meaning and utterer's meaning) fassen. Indem er den Autorintentionalismus ablehnt, weist er die Vorstellung zurück, daß das Ziel der Interpretation die Entdeckung der Sprecherbedeutung sei.

 

Mir erscheint dieser letzte Schluß unplausibel, da es sich ja – aus der Perspektive des Lesers – um zwei unterschiedliche Informationsquellen handelt. Beide Textquellen sind die Basis für Inferenzen, die sich zu jeweils unterschiedlichen Thesen zusammenfassen lassen, was die Bedeutung des Textes sei. Wenn man Diskrepanzen zwischen den Bedeutungen findet, dann wird das im Einzelfall abzuwägen sein: Besonders relevant sind dann natürlich die kommunikativen Zusammenhänge der nicht-literarischen Äußerungen. Sagt der Autor das, um sich in einem bestimmten Licht darzustellen, sich vor Angriffen zu schützen, soziale Vernetzungen zu befördern usw. Nehmen wir aber nun einmal den einfachen Fall an, daß es Brüche im Werk gibt, die sich nicht sinnvoll erklären lassen und eine einheitliche Bedeutung des Werks verhindern. Nehmen wir weiterhin an, wir wissen aus anderen Quellen, daß diese Brüche durch besondere Arbeitsbedingungen – Beispiel: E.T.A. Hoffmann: Texte schon beim Drucker – und den Wechsel der Werkkonzeption zustande gekommen sind. Würden wir dann tatsächlich unsere Interpretation des Werks allein auf den literarischen Text stützen? Die Annahme, das Ziel der Werkinterpretation sei die Äußerungsbedeutung, also die Rekonstruktion eines intentionalen Gehalts allein auf der Grundlage des Werks, scheint mir eine aus den Bedingungen der Kommunikation selbst nicht ableitbare Setzung zu sein. Und die Unterstellung künstlerischer Intelligenz, die die Inferenzprozesse auf seiten des Lesers organisiert, ist anthropomorph und zeigt auf die reale Person dahinter, wenn sie auch nicht mit ihr zusammenfällt. Mir scheint daher die übliche hermeneutische Praxis sehr viel näher an den Gepflogenheiten der Alltagskommunikation: Wir können manchmal feststellen, daß eine Äußerung aus irgendwelchen Gründen nur sinnvoll ist, wenn man sie als fehlerhafte Formulierung der Intention des Sprechers auffaßt. Ob man dann, wie ein sturer Beamter mit einem "Sie haben aber gerade gesagt ..." auf die Äußerungsintention eingeht oder auf die vermutete Sprecherintention ist wohl abhängig vom eigenen Handlungsziel, läßt sich aber nicht aus den Regeln der Kommunikation ableiten. Und auch die Handlungsziele des beobachtenden Literaturwissenschaftlers können evtl. aus seinen Erkenntniszielen abgeleitet werden. Eine automatische Privilegierung des Werks ist jedoch eher die Folge einer Überhöhung des Werkbegriffs, der ein Blick in die Werkstatt der Autoren, wie ihn Editionen gestatten, ganz gut gegensteuern könnte.

 

V.

Nachdem ich nun schon so lange ihre Geduld strapaziert habe, zuletzt noch ganz kurzes Wort zur Begriffskonstruktion selbst: Warum 'analytische Hermeneutik'?

 

Warum 'analytisch'? Die Bezeichnung ist zwar nicht ganz so unbegründet reißerisch wie Eckhard Henscheids Titel Die Mätresse des Bischofs für ein Altherrenporträt oder das assoziationsreich verlockende Der Name der Rose für einen semiotischen Klosterkrimi. Aber eine Verschwisterung der philosophischen Traditionen ("Hermeneutik" und "analytische Philosophie") soll gerade nicht angedeutet werden. Die positiven Assoziationen von kontrollierter begrifflicher Reflexion, von Offenlegung der Voraussetzungen und von zugänglicher Argumentation sind jedoch durchaus gewollt. Sie fügen via Adjektiv dem Hauptwort eben jene anregende, leicht zukunftsweisende Frische hinzu, die vielleicht künftig einmal auch wieder in dieses selbst eingehen wird.

 

Muß denn aber der Begriff 'Hermeneutik' noch sein? Im 20. Jh. wurde er am intensivsten in philosophischen Diskursen verhandelt. Diese Diskussionstradition ist für meine Interessen nicht sonderlich fruchtbar, da ich nicht auf den urwesentlichen Modus unseres Seins oder eine grundsätzliche Kritik aller abendländischen Metaphysik abziele. Mit einer ausgeprägten Vorliebe für Theorien mittlerer Reichweite geht es mir in erster Linie um eine Reflexion unseres Geschäfts als Philologen. Fruchtbar dafür scheint mir die Anknüpfung an die philologische Tradition der Hermeneutik wie sie etwa im bereits zitierten August Boeckh greifbar ist. Nicht Welterklärung, sondern Reflexion philologischer Praxis ist das Ziel.

 

Vielen Dank.

 

Prof. Dr. Fotis Jannidis, Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, TU Darmstadt
Homepage

 

Zum Korreferat



[1]        Sudelbücher E I 52. (Bd. 1, S. 353)

[2]        Boeckh 80.

[3]        ebda.

[4]        Derrida 23

[5]        ebda. 26.

[6]        Derrida S. 15.

[7]        Relevanz 158

[8]        Vgl. Levinson insbesondere Kapitel 3 und dort das Schaubild S. 188.

[9]        Vgl. Currie 108