3. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie, 01.07.2005

Matthias Beilein

Korreferat zu Joseph Jurt: Theorie des literarischen Feldes

1. Theorie

1.1       Die Feldtheorie ist eine Verstehenstheorie, keine Bedeutungstheorie.

Die Feldtheorie ist ein Beschreibungsmodell für genetische, literaturhistorische Fragestellungen (Laufbahnen von Autoren und Autorengruppen, literarische Strömungen, Gattungsgeschichte etc.). Sie hat aber kein eigenes Modell entwickelt, das zum Verstehen (einzelner) literarischer Texte beiträgt. Für textexegetische Fragen ist die Feldtheorie (abgesehen von Fällen der Beschreibung fiktiver Welten, vgl. den Prolog in Regeln der Kunst) auf die Unterstützung durch andere Theorien/Modelle angewiesen. Doch welche Interpretationstheorie paßt am besten zu Bourdieu? Welches exegetische Modell liegt seiner eigenen "soziologische[n] Lektüre" Flauberts (Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 67) zugrunde? Wie wichtig sind ihm psychoanalytische Ansätze (vgl. ebd., S. 53f. Bezug auf Freud), strukturalistische (vgl. ebd., S. 65, Bezug auf Genette und Barthes) und traditionell kultursoziologische Ansätze (vgl. ebd., S. 19, Bezug auf Goldmann und S. 67, Anspielung auf Weber).

1.2       Die Feldtheorie ist eine Supertheorie.

Schon allein im Hinblick auf ihre Entstehung scheint die Feldtheorie das Potential zu haben, unterschiedliche Theorien und Modelle sowie unterschiedliche geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen miteinander zu verbinden. Bourdieu unterhält "einen Dialog mit Kant, Heidegger, Wittgenstein und Austin quer durch ein Werk, das sich auf dem soziologischen Feld gerade dadurch auszeichnet, daß es keinen echten Bruch mit dem philosophischen Diskurs vollzieht."[1] Bourdieu macht seinen Abschluß in Philosophie, arbeitet aber zunächst als Ethnologe, dann als Soziologe. Wieviel Strukturalismus steckt (noch) in der Feldtheorie? Schreibt Bourdieu gegen die "klassische" Literatursoziologie (besonders in Hinblick auf seine eigene Flaubert-Analyse) an? In welchem Verhältnis steht die Feldtheorie zu den deutschen Projekten einer Sozialgeschichte der Literatur (vgl. Bourdieu, Das literarische Feld, S. 83f.)? Ist Bourdieus Auseinandersetzung mit deutschsprachigen Philosophen, Geistes- und Sozialwissenschaftlern (Kant, Hegel, Marx, Heidegger, Husserl, Cassirer, Weber, Benjamin, Wittgenstein, Gadamer, Popper, Elias, Habermas etc.) Indiz einer Strategie, mit der sich Bourdieu vor allem in den deutschsprachigen akademischen Feldern zu positionieren versucht?

1.3       Die Feldtheorie re-nationalisiert die Kultur­wissenschaften.

Die Feldtheorie sorgt innerhalb der transnational ausgerichteten Kulturwissenschaften für eine Re-Nationalisierung, indem sie den Schwerpunkt ihres Erkenntnisinteresses auf nationale, voneinander abgegrenzte Felder legt. Wie aussagekräftig sind dagegen Studien, die die Feldtheorie in einem globalen Rahmen anwenden (Pascale Casanova)? Bergen diese nicht wiederum die Gefahr, die je relative Autonomie der nationalen Felder zu unterschlagen?

1.4       Die Feldtheorie ist immer auf den Akteur bezogen.

Ist die Feldtheorie in der Lage, bestimmte Epochen, einzelne Texte, Gattungen, Stilmittel etc. auch unabhängig von ihren jeweiligen Produzenten zu analysieren oder kann sie sich mit Texten nur in Verbindung mit ihren Autoren (und ihren Habitus, Klassenzugehörigkeiten, Geschlecht etc.) auseinandersetzen? Ist der "Raum der Stellungnahmen" (Bourdieu, Das literarische Feld, S. 74ff.) analysierbar ohne die Produzenten der Stellungnahmen einzubeziehen?

1.5       Die Bourdieu-Rezeption der deutschen Literatur­wissenschaft ist ein Mißverständnis.

Während die Feldtheorie sich in Deutschland als ein literaturwissenschaftliches Beschreibungsmodell etabliert hat, ist Bourdieus Plädoyer für eine engagierte Wissenschaft ("Keine Wissenschaft ohne Engagement. Kein Engagement ohne Wissenschaft"[2]) in der deutschen Literaturwissenschaft ohne Resonanz geblieben. Könnte Bourdieus Konzept des "großen kollektiven Intellektuellen" die deutschen Geisteswissenschaftler von ihrer Marginalisierung erlösen? Ist dieses Konzept geeignet, Geisteswissenschaftler in die Gestaltung gesellschaftspolitischer Veränderungen einzubinden? Affirmieren sie ihre Randexistenz, die sie scheinbar dazu verurteilt, auf Vorgaben durch die Politik nur noch reagieren zu können, nicht auch dadurch, daß sie zu ihrem eigenen Feld so wenig auf Distanz gehen: "Es gibt viele Intellektuelle, die die Welt in Frage stellen, es gibt wenige, die die intellektuelle Welt in Frage stellen."[3]

 

2. Begriffe

2.1       Habitus

Wie läßt sich der Habitus von anderen internalisierten, handlungsbestimmenden Schemata (z.B. Mentalität oder Lebensstil (vgl. Bourdieu, Das literarische Feld, S. 52)) abgrenzen?

2.2       Kapital und Feld

Wie verhalten sich Feld- und Kapitalbegriff zu den Foucaultschen Termini Diskurs (oder auch Episteme, vgl. Bourdieu, Das literarische Feld, S. 76ff.) und Macht?

2.3       Klasse

Ist Bourdieus Begriff der Klasse ein Rudiment der marxistisch orientierten Literatur­theorie? Wie läßt sich sein Klassenbegriff vom Habitus abgrenzen?

2.4                 Ökonomisches Feld und literarisches Feld

Für Bourdieu stehen ökonomisches und literarisches Feld (in bezug auf das Kapital) zueinander in einem chiastischen Verhältnis. Aber hat die Akkumulation von ökonomischem Kapital wirklich immer einen negativen symbolischen Effekt im literarischen Feld? Und wie verhält es sich, wenn die Akkumulation von symbolischem Kapital einhergeht mit der Akkumulation von ökonomischem Kapital (Bsp. Nobelpreis)? Wer macht in literarischen Feldern, in denen dominante Institutionen "bürgerlicher Anerkennung" (Bourdieu, Das literarische Feld, S. 43, in bezug auf die Académie française, ebd., S. 106, in bezug auf den Salon) fehlen, die Avantgarde zur "geweihten Avantgarde" (vgl. Bourdieu, Das literarische Feld, S. 48), wenn nicht (auch) der ökonomische Erfolg? Die Medien? Die Literaturwissenschaft?

 



[1]     François Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Bd. 2, Frankfurt am Main 1999, S. 89.

[2]     Bourdieu, zitiert nach: absolute Pierre Bourdieu, hg. v. Joseph Jurt, Freiburg/Breisgau 2003, S. 164.

[3]     Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt am Main 2002, S. 31.