10. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie:
Das Interpretationsproblem in Nachbardisziplinen 2: Religionswissenschaft, 26. Januar 2007

Thomas Kaufmann

Thesen zu Mustern religiöser Erfahrung in der Reformation

1.
Religiöse "Erfahrung" als persönliche Selbstthematisierung einzelner Menschen in bezug auf ihr Gottesverhältnis ist ein Grundthema reformatorischer Theologie und ein Grundsachverhalt der Reformation als epochalem kirchen- und gesellschaftsge-schichtlichen Phänomen. In der Geschichte menschlicher Selbstdeutung dürfte der Reformation sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht eine epochale Bedeutung zukommen. In quantitativer Hinsicht insofern, als niemals zuvor in der Ge-schichte des Abendlandes so viele Menschen unterschiedlicher sozialer und Bil-dungsschichten als Meinungsträger eines öffentlichen Kommunikationsprozesses in Erscheinung getreten und unter Einschluß von Aussagen über ihre eigene Person, ihr Glaubens- und Gottesverhältnis und die Motive ihres publizistischen Engagements zu den vor allem durch Luther aufgeworfenen Fragen des Zeitalters Stellung bezogen haben. In qualitativer Hinsicht insofern, als Grundmotive reformatorischer Theologie und reformatorischen Glaubensverständnisses - die Hinwendung Gottes zum einzel-nen Menschen, die exklusiv hermeneutische, d. h. durch die Begegnung mit dem Worte Gottes vermittelte Gottesbeziehung, die Urteilskompetenz jedes Christenmen-schen über die Wahrheit der biblischen Botschaft - spezifische und zum Teil neuarti-ge Formen religiöser Erfahrung und ihrer Artikulation eröffnet und begründet haben.


2.
Die aufweisbaren Modelle, in denen religiöse Erfahrung in reformatorischen Texten thematisiert wurde, sind nicht im Sinne prinzipieller, einander ausschließender Kulturmuster zu verstehen, sondern können bei einzelnen Autoren auch komplemen-tär zueinander auftreten. Sie setzten durchweg ein Moment der Diskontinuität gegen-über der vorangegangenen Lebensgeschichte des einzelnen voraus, unterscheiden sich gleichwohl hinsichtlich der Umgangsweise mit der je eigenen 'Vorgeschichte' tendenziell grundlegend.


2.a.
Das vor allem bei frühreformatorischen Erstpublizisten verbreitete Modell der Selbstthematisierung als Legitimationsprinzip zielt darauf ab, öffentliches publizisti-sches Engagement unter Rekurs auf eigene Erfahrungen zu rechtfertigen. Das Ver-hältnis zur 'vorreformatorischen Existenz' wird nicht selten als sukzessiver Übergang, als planvoller Entwicklungsprozeß oder als Konsequenz von Neigungen, Einsichten oder Regungen des Unbehagens gegenüber der kirchlichen Wirklichkeit, in der man bisher lebte, empfunden und dargestellt. Die Person bleibt sich sozusagen gleich, a-ber neue Einsichten haben die Wirklichkeit und ihre Deutung verändert, und der ein-zelne Mensch sucht durch öffentliches Engagement an diesem Prozeß aktiv teilzu-nehmen und Widersprüche zwischen dem eigenen religiösen Empfinden und Denken und Erscheinungen des Kirchenwesens, die man früher erlitten oder jetzt zu kritisieren gelernt hat, abzumildern oder zu überwinden. Die - sit venia verbo - 'vorreformatori-sche Existenz' wird von der 'reformatorischen' Existenz, von einem neugewonnenen Glaubens- und Selbstverständnis, integriert.


2.b.
Das zweite, vornehmlich unter Repräsentanten des sog. 'linken Flügels' verbreitete Konzept der Gotteserfahrung als Autoritätsstiftung dürfte die deutlichsten traditions-geschichtlichen Rückbindungen an mittelalterliche, insbesondere mystische und im Hussitismus verbreitete Formen religiöser Erfahrung aufweisen. Die einzelne, sich selbst thematisierende Person tritt als Mensch mit einer eigenen Geschichte völlig in den Hintergrund, ja wird gleichsam von der überwältigenden, sie ganz in Anspruch und in ihren Dienst nehmenden, sie in einem Leidensprozeß läuternden Gottheit ab-sorbiert. Die außeralltägliche, in Analogie zu alttestamentlichen Prophetenberufungen gedeutete Gotteserfahrung begründet ein von exklusivem Abstandsbewußtsein ge-prägtes kritisches Gegenüber zum Mehrheitschristentum der Nichterwählten. Die bio-graphische Existenz der Person und ihrer Geschichte wird von der göttlichen Inpflichtnahme her relativiert oder annihiliert.


2.c.
Das dritte, an der vornehmlich durch Leseerfahrung vermittelten Begegnung mit dem lebenswendenden Worte Gottes orientierte Erfahrungsmodell einer existentiellen Wende thematisiert das Handeln Gottes an der eigenen Person zumeist in Form ei-nes dramatischen Umbruchs. Die Person wird gleichsam im Akt des göttlichen Zu-spruchs aus der verzweifelten Tiefe der Gottesferne herausgerissen und neu konstitu-iert. Die maßgebliche Veränderung geschieht an der Person des Glaubenden, der in einen Zustand letzter Gewißheit versetzt wird. Das Verhältnis zur unbekehrten, 'vorre-formatorischen' Existenz ist durch eine disjunktive Spannung charakterisiert, die in der neuen Gewißheit des im-Glauben- oder in-Christus-Lebens überwunden wird. Die gläubige Existenz extra Christum wird in der gläubigen Existenz in Christo saniert.


3.
Erfahrung als Grundthema reformatorischer Theologie in der Vielfalt ihrer Ausprä-gungen ist ursächlich verbunden mit neuartigen, öffentlich kommunizierten Versprach-lichungsformen, die jedem Versuch, authentische Erlebnisgehalte zu rekonstruieren, enge Grenzen auferlegen. Freilich ist gerade die Konventionalität, in der Erfahrung thematisiert wurde, Ausdruck mentalitätsgeschichtlicher Selbstverständlichkeiten und überindividueller Plausibilitäten. Nicht die Unzugänglichkeit spezifischer religiöser Er-fahrungen, sondern ihre Kommunikabilität kennzeichnet die reformatorische Um-gangsweise mit Erfahrung. Daß Gott in der eigenen Lebensgeschichte, in der Er-leuchtung einzelner herausragender prophetischer Gestalten und im und durch das biblische Wort wirkt und erfahrbar ist, ist eine von den Protagonisten der Reformation geteilte Selbstverständlichkeit. Von der Situierung der Erfahrbarkeit des Göttlichen im kirchlichen Kult und in dem sie repräsentierenden Klerus ist diese in der Bibelerfah-rung begründete und von der Bibel her die Welterfahrung deutende reformatorische Erfahrungskonzeption fundamental unterschieden. Die Entschränkung der Erfahrbar-keit Gottes gegenüber dem exklusiven Heilsraum Kirche bildet den Erfahrungszu-sammenhang jenes geschichtlichen Vorgangs, der im Anschluß an die Selbstdeutung zahlreicher Zeitgenossen des frühen 16. Jahrhunderts und ihre 'Epochalisierung' ei-gener geschichtlicher Erfahrung als Reformation bezeichnet wird.


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