8. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie, 14. Juli 2006

Axel Spree

Drei Wege der analytischen Literaturwissenschaft

 

Meine Damen und Herren,

 

ich bin gebeten worden, über die analytische Literaturwissenschaft zu sprechen. Das ist schwieriger als es sich anhört: nicht nur, weil die analytische Literaturwissenschaft keine klar umgrenzte literaturwissenschaftliche 'Schule' darstellt - es handelt sich dabei vielleicht nicht einmal um 'Literaturwissenschaft' (im eigentlichen Sinne). Trotzdem scheint der Ausdruck "analytische Literaturwissenschaft" im literaturtheoretischen Diskurs mittlerweile etabliert zu sein; dies belegen entsprechende Artikel in den einschlägigen Handbüchern und Lexika. - Zur Präzisierung des Ausdrucks bieten sich nun verschiedene Möglichkeiten an: Man könnte zum einen auf der Grundlage vorliegender Bestimmungen sowie der historischen Entwicklung und der aktuellen Situation eine allgemeine Charakterisierung der analytischen Literaturwissenschaft versuchen - sozusagen eine Sichtung vorhandener Begriffsbestimmungen mit anschließender Explikation. Man könnte zum anderen anhand von klaren und eindeutigen Beispielen, also anhand der Arbeiten von unbestritten wichtigen oder sogar zentralen Vertretern der analytischen Literaturwissenschaft einige typische Probleme, Vorgehensweisen und Lösungen vorstellen, hoffend, daß sich diese exemplarischen Hinweise zu einem Bild zusammensetzen lassen. Ich werde im folgenden beide Wege beschreiten. In einem ersten Abschnitt werde ich zunächst auf die Schwierigkeiten einer genauen Bestimmung der analytischen Literaturwissenschaft eingehen und sodann Vorschläge zu einer Präzisierung des Ausdrucks machen. In einem zweiten Abschnitt werde ich drei Wege der deutschsprachigen analytischen Literaturwissenschaft anhand von drei ihrer wichtigsten, vielleicht der wichtigsten Vertreter kurz vorstellen, nämlich Werner Strube, Gottfried Gabriel und Harald Fricke. In einem dritten Abschnitt soll dann vor dem Hintergrund dieser Darstellung eine Charakterisierung des gegenwärtigen Zustands der analytischen Literaturwissenschaft erfolgen, wobei ich gegen die Behauptung, die analytische Literaturwissenschaft habe sich mittlerweile als ein homogenes Forschungsparadigma etabliert, eine differentialistische These vertreten werde.

1. Was heißt "analytische Literaturwissenschaft"?

Im Jahr 1984 erschien ein von Peter Finke und Siegfried J. Schmidt herausgegebener Sammelband mit dem Titel Analytische Literaturwissenschaft, durch den verschiedene literaturwissenschaftliche "Konzepte, die sich nicht an hermeneutischen, sondern an analytischen Philosophien orientieren" (Finke/Schmidt 1984, S. V), einen gemeinsamen Namen erhalten sollten. Was immer die Ausdrücke "hermeneutisch" und "analytisch" bezogen auf "Philosophien" genau bedeuten mögen (und man wird sich im Zweifelsfall einigen können, daß man sich nicht einigen kann, was diese Ausdrücke genau bedeuten): Es hat, in der Rückschau, den Anschein, als sei mit dieser vagen Bestimmung bereits das Äußerste an Präzision in der Benennung der gemeinsamen Grundlagen einer analytischen Literaturwissenschaft erreicht. Diese Gemeinsamkeit besteht demnach zum einen in der Orientierung an den wissenschafts-, erkenntnis- und/oder sprachtheoretischen Prinzipien der (sogenannten) analytischen Philosophie, zum anderen in der Ablehnung (sogenannter) hermeneutischer Konzepte in der Literaturwissenschaft. Aber bereits der 'namengebende' Sammelband enthüllt eine Vielfalt und Divergenz der Positionen auf diesem Feld, und zwar sowohl auf der ('guten') analytischen wie auf der ('bösen') hermeneutischen Seite. Ich zitiere zur Illustration eine längere Passage aus Harald Frickes Beitrag zu diesem Band, die nach wie vor lesens- und zitierenswert ist, weil hier auf ebenso instruktive wie amüsante Weise bereits die wichtigsten 'Gegner' der analytischen Literaturwissenschaft (Psychoanalyse, Poststrukturalismus, Hermeneutik, Adorno) ebenso wie ihre wichtigsten 'Verbündeten' (logischer Empirismus, Strukturalismus, Wittgenstein) versammelt sind:

 

Ein 'analytischer Literaturwissenschaftler' wird bei seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit Dichtung die Analyse höher schätzen als die Psychoanalyse, wird beim Stichwort "Widerspruch" zunächst an Kontradiktionen denken und nicht an Klassenantagonismen, wird stärker dem angelsächsischen Empirismus zuneigen als dem französischen Poststrukturalismus und lieber Wittgenstein als Adorno lesen. Er wird im Zweifelsfall einem Vortrag über Jakobson vor einem über Schleiermacher den Vorzug geben; und wenn er die Wahl zwischen drei gleichzeitigen Vorträgen über Nietzsche, über Frege und über Chomsky hat, wird er selbstverständlich sich ohne längere Überlegung - für den Nietzsche-Vortrag entscheiden, weil er über Frege und Chomsky eh schon alles weiß. Gelegentlich wird er sich über konservative Literaturhistoriker ärgern, die in Grundsatzdiskussionen anstelle von Argumenten nur den Hinweis auf "die Geschichtlichkeit der Literatur" im Munde führen, und dies (frei nach Musil) so oft, wie ein anderer "Donnerstag" sagt. Demgegenüber wird es freilich dem konservativen Kollegen nicht schwer fallen, nun seinerseits den analytischen Literaturwissenschaftler in nur geringfügig karikierender Weise als jemanden zu beschreiben, der das Wort "Wissenschaftlichkeit" so oft im Munde führt, wie ein anderer "Donnerstag" sagt - dies aber in einem so feierlichen Ton, wie ein anderer allenfalls "Sonntag" sagt. (Fricke 1984, S. 41f.)

 

Bei aller Eloquenz und selbstironischer Zuspitzung - mehr als grobe Zuordnungen sind auch dem nicht zu entnehmen: Analyse ja, Psychoanalyse nein; Strukturalismus ja, Poststrukturalismus nein; Wittgenstein ja, Adorno nein; Jakobson, Frege und Chomsky ja, Schleiermacher und Nietzsche nein. Die Kriterien, die es erlauben, Frege, Wittgenstein, Jakobson und Chomsky einer Gruppe, Schleiermacher, Nietzsche und Adorno einer anderen Gruppe zuzuordnen, bleiben notgedrungen vage. Und das Kriterium, nach dessen Maßgabe die Hermeneutik in eine Gruppe mit dem Poststrukturalismus fällt (womit nicht zuletzt der von Jacques Derrida inspirierte Dekonstruktivismus gemeint sein dürfte), besteht wohl in der von Fricke angesprochenen "Wissenschaftlichkeit": Wie verschieden Hermeneutik und Dekonstruktion auch sein mögen, sie sind (aus einer bestimmten Perspektive) eben beide nicht 'wissenschaftlich'. Wie aber ist es dann zu verstehen, daß bei Werner Strube Dekonstruktivismus und Empirische Literaturwissenschaft in eine Gruppe gehören, wo doch letztere sich die Wissenschaftlichkeit größer auf die Fahnen geschrieben hat als irgendjemand sonst? (Strube 1993, S. 7) Offensichtlich lassen sich weder für die Seite der analytischen Literaturwissenschaft noch für deren 'Gegner' klare und eindeutige Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen benennen. Mehr noch: Diese Situation hat sich seit 1984 nicht entscheidend geändert. Ich stimme Jürn Gottschalk und Tilmann Köppe zu, die noch 2006 ebenso lapidar wie zutreffend konstatieren: "Von einer klar konturierten 'analytischen Literaturtheorie' (oder 'Literaturwissenschaft') kann im deutschen Sprachraum nicht die Rede sein." (Gottschalk/Köppe 2006, 11)

 

Trotz dieser Unübersichtlichkeit läßt sich allerdings sehr wohl einiges zur Präzisierung des Ausdrucks "analytische Literaturwissenschaft" anführen, und zwar in historischer und in sachlicher Hinsicht. - Zum einen hat die heute so genannte "analytische Literaturwissenschaft" eine Vorgeschichte: Hierzu wird in einem weiten - m.E. zu weiten - Sinn alles das gezählt, was man (mit einem Ausdruck aus den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts) als "Verwissenschaftlichung" der Literaturwissenschaft bezeichnen könnte; als da wären: Formalismus, Strukturalismus, später die empirische (oder auch empirisch-analytische) Literaturwissenschaft (Danneberg/Müller 1979). Harald Fricke spricht in diesem Zusammenhang von "Stammvätern der analytischen Literaturwissenschaft" und nennt neben den Russischen Formalisten besonders Leo Spitzer und Roman Jakobson (Fricke 1984, S. 45; vgl. Winko 2004, S. 16). Heute, da die analytische Literaturwissenschaft die Berufung auf Autoritäten wohl nicht mehr nötig hat, sollte man die Dinge differenzierter sehen. Wer Formalismus und Strukturalismus zu 'Vorstufen' der analytischen Literaturwissenschaft erklärt, schert die analytische Literaturwissenschaft über einen Kamm mit jeglichen Formen einer irgendwie 'wissenschaftlichen' Beschäftigung mit Literatur und Literaturwissenschaft, ohne daß das spezifisch 'Analytische' eine Rolle spielen würde. Anders gesagt: Die vielbeschworene 'Wissenschaftlichkeit' besteht unter dieser Perspektive nicht in der Ausrichtung an den Standards der analytischen Philosophie, sondern im wesentlichen in der gemeinsamen Ablehnung der geistesgeschichtlichen, literaturhistorischen und/oder hermeneutischen Tradition.

 

In einem engeren Sinn zählen zur Vorgeschichte der analytischen Literaturwissenschaft die vor allem im angelsächsichen Raum seit den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts unternommenen Versuche, die analytische Philosophie in ihren beiden Hauptrichtungen - der ordinary language philosophy einerseits und der ideal language philosophy andererseits - für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen; so beispielsweise die Applikation des Anti-Essentialismus und Differentialismus der Spätphilosophie Wittgensteins zunächst auf Probleme der allgemeinen Ästhetik, dann auch auf die einzelnen Künste und schließlich auf die ihnen zugeordneten Einzelwissenschaften. Exemplarisch kann hier Morris Weitz genannt werden, der sich zunächst (in dem klassischen Aufsatz "The Role of Theory in Aesthetics") mit der allgemeinen Frage nach dem Wesen der Kunst befaßte und sich später (in Hamlet and the Philosophy of Literary Criticism) der Literaturwissenschaft zuwandte. Im Zuge dieses "meta-criticism" kam es bereits in den späten fünfziger Jahren zu einer ebenso 'analytischen' wie vielfältigen Auseinandersetzung mit den Begriffen und Verfahren der Literaturwissenschaft, die bis in die siebziger Jahre und darüber hinaus andauerte. An Beispielen wären zu nennen: die Klärung literaturwissenschaftlich zentraler Begriffe (bzw. 'Verfahren') wie etwa Interpretation und Beschreibung (z.B. Margolis 1968); Analysen etwa des Interpretationsbegriffs, die zur Benennung verschiedener 'Typen' der Interpretation führten (z.B. Hampshire 1966; Shusterman 1978); in den siebziger Jahren dann bspw. auch Heide Göttners auf dem Boden einer allgemeinen empirischen Methodologie durchgeführte Untersuchung der Logik der Interpretation (Göttner 1973); oder auch J.R. Searles sprechakttheoretische Analyse der fiktionalen Rede (Searle 1979).

 

Was zum anderen die gegenwärtige Situation angeht - und damit komme ich zur Präzisierung in sachlicher Hinsicht -, so hat es sich eingebürgert, zwischen einer "rekonstruktiven" und einer "konstruktivistischen" Strömung innerhalb der analytischen Literaturwissenschaft zu unterscheiden (Freundlieb 1997, Winko 2004, Spree 2007). Diese (letztlich auf Harald Frickes Herausgeberschaft des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft zurückgehende) Unterscheidung ist aus mindestens zwei Gründen problematisch und also reformbedürftig. Sie ist (1) historisch überholt. Denn: In dieser Unterscheidung bezeichnet die "konstruktivistische" Variante in erster Linie die Empirische Literaturwissenschaft Siegener Prägung, sofern diese auf dem erkenntnistheoretischen Fundament des sogenannten Radikalen Konstruktivismus aufbaut. Diese in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts propagierte Form einer radikalen Neuorientierung der Literaturwissenschaft hat sich allerdings nicht durchsetzen können und spielt in den gegenwärtigen Diskussionen kaum mehr eine Rolle - zumindest nicht, was die Literaturwissenschaft im engeren Sinn angeht. Anders gesagt: Sie ist im wesentlichen in Medientheorie aufgegangen. Diese Einschätzung wird bestätigt durch die "Abtrittsvorlesung" des Initiators und einstigen Vordenkers der Empirischen Literaturwissenschaft, Siegfried J. Schmidt, der unter dem bezeichnenden Titel "Stationen eines glücklichen Scheiterns" so etwas wie einen 'Abgesang' auf den Empirisierungsversuch in der Literaturwissenschaft vorgelegt hat. - Die Unterscheidung "rekonstruktiv/konstruktivistisch" ist (2) in sachlicher Hinsicht fragwürdig. Zwar mag die konstruktivistische Empirische Literaturwissenschaft ihre Wurzeln in denselben Bemühungen um eine 'Verwissenschaftlichung' der Literaturwissenschaft haben wie die rekonstruktive Richtung der analytischen Literaturwissenschaft - dies belegt u.a. der eingangs zitierte Sammelband -; es ist allerdings - nicht nur bezogen auf die gegenwärtige Situation - auch ein fundamentaler Unterschied zu konstatieren: Die analytische Literaturwissenschaft bezieht sich beschreibend oder explizierend auf eine bestehende literaturwissenschaftliche Praxis; sie geht davon aus - mit einer Formulierung Strubes -, daß "die Sprache der traditionellen Literaturwissenschaft brauchbar ist oder 'funktioniert'." (Strube 1993, S. 8) Die Empirische Literaturwissenschaft dagegen hat diese Praxis in radikaler Weise in Frage gestellt und der bestehenden 'traditionellen' Literaturwissenschaft den Wissenschaftsstatus überhaupt abgesprochen (vgl. Spree 1995, S. 114ff.). - Insgesamt ist die Unterscheidung zwischen einer "rekonstruktiven" und einer "konstruktivistischen" Richtung wohl weniger als Versuch einer Abgrenzung verschiedener Bereiche innerhalb der analytischen Literaturwissenschaft zu verstehen als vielmehr als Versuch einer Ausgrenzung: Die Empirische Literaturwissenschaft gehört nicht - oder nicht mehr - dazu.

 

Ich schlage aus diesen Gründen andere begriffliche Unterscheidungen zur Binnendifferenzierung der analytischen Literaturwissenschaft vor. Die "konstruktivistische" Richtung fällt aus den genannten Gründen weg; "analytische Literaturwissenschaft" soll nunmehr nur das bezeichnen, was ehemals ihre "rekonstruktive" Richtung genannt wurde. Innerhalb derer gibt es "rekonstruktive" (oder "deskriptive") und "konstruktive" Tendenzen. Der Ausdruck "Tendenzen" impliziert, daß wir es bei dieser Einteilung wiederum nicht mit klar abgegrenzten 'Blöcken' zu tun haben, sondern mit verschiedenen Autoren, die eher der einen oder der anderen Gruppe zuzuordnen sind - oder eben zu der einen oder der anderen Richtung tendieren. Des weiteren kann zwischen "metatheoretischen" und "objekttheoretischen" Untersuchungen unterschieden werden. - Mit diesen vier Begriffen lassen sich auch die Arbeiten der hier behandelten Autoren charakterisieren. So sind deskriptiv-differentialistische Untersuchungen der literaturwissenschaftlichen Vorgehensweisen (à la Strube) als rekonstruktiv und metatheoretisch zu beschreiben; Untersuchungen der Sprache der Literaturwissenschaft mit dem Ziel einer explikativen Präzisierung der literaturwissenschaftlichen Terminologie (à la Fricke) als konstruktiv und metatheoretisch; und sprachphilosophisch-erkenntnistheoretische Bestimmungen der Funktion und des Funktionierens literarischer Bedeutung (à la Gabriel) wären konstruktiv und objekttheoretisch.

 

Die analytische Literaturwissenschaft [i.e. die ehemals 'rekonstruktive' Variante] ist - wenn man die drei hier behandelten Autoren als deren zentrale Vertreter anerkennt - zu wesentlichen Teilen Philosophie der Literaturwissenschaft, und zwar genauer (wie der Name schon sagt): analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Sie verfährt (1) philosophisch (und nicht etwa empirisch, soziologisch, psychologisch o.ä.), sie ist namentlich (2) an Standards und Verfahrensweisen der analytischen Philosophie orientiert, und sie bezieht sich (3) auf eine bestehende literaturwissenschaftliche Praxis, die sie beschreibend klären oder explizierend vereindeutigen will. Als Teil der Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften verfährt sie metatheoretisch, anders gesagt: Sie ist eine Beobachtung zweiter Ordnung (vgl. Spree 1995, S. 29). In einer konstruktiven und objekttheoretischen Variante ist die analytische Literaturwissenschaft auch Philosophie der Literatur, und zwar genauer: analytische Philosophie der Literatur. Und schließlich ist auch eine analytische Literaturwissenschaft, die auf philosophisch-analytischen Annahmen beruht, sich aber literaturwissenschaftlich-praktisch, d.h. beschreibend, interpretierend oder wertend auf den Objektbereich der Literaturwissenschaft bezieht, zumindest vorstellbar.

2. Drei Wege

Trotz dieses Präzisierungsversuchs bleibt der Ausdruck "analytische Literaturwissenschaft" bis zu einem gewissen Grade unbestimmt und problematisch. Zum einen erweckt die Bezeichnung den Eindruck eines klar umrissenen Forschungsprogramms mit klar definierten Zielsetzungen und genau ausgearbeiteten 'Methoden'. Dieser Eindruck ist nach den Ausführungen des ersten Abschnitts falsch. Auch für die gegenwärtige Situation muß (in Abwandlung einer Lieblingsformulierung Werner Strubes) konstatiert werden: So etwas wie die analytische Literaturwissenschaft gibt es nicht. - Zum zweiten klingt der Ausdruck "analytische Literaturwissenschaft" wie die Bezeichnung einer literaturwissenschaftlichen 'Schule' (wie etwa "feministische Literaturwissenschaft" o.ä.), innerhalb derer der Objektbereich der Literaturwissenschaft, also: die literarischen Texte nach Maßgabe bestimmter theoretischer Vorgaben klassifiziert, interpretiert, bewertet werden. Auch dieser Eindruck ist zumindest in quantitativer Hinsicht falsch. Denn selbst die Untersuchungen im Objektbereich der Literaturwissenschaft, wie sie Gabriel und Fricke durchgeführt haben, sind vornehmlich philosophische Untersuchungen, weniger literaturwissenschaftlich-praktische.

 

Wie also soll man sich ein klareres Bild dessen machen, was unter dem Namen "analytische Literaturwissenschaft" zu verstehen ist? Nun, auch wenn das Feld der analytischen Literaturwissenschaft unübersichtlich bleibt, so lassen sich doch - um den Titel dieses Vortrags aufzunehmen - auf diesem Feld verschiedene Wege ausmachen sowie Personen, die diese Wege gegangen sind bzw. sie überhaupt erst angelegt haben. Dieses Bild ließe sich weiter ausreizen: Manche dieser Wege laufen parallel, andere führen zu unterschiedlichen Zielen, aber man kann auch auf verschiedenen Wegen zum selben Ziel gelangen; bisweilen kreuzen sich einzelne Wege, und manche vereinigen sich für eine Strecke, um sich dann wieder zu trennen und in verschiedene Richtungen fortzulaufen. Allen Wegen ist gemeinsam, daß sie über oder durch das Feld der "analytischen Literaturwissenschaft" führen, wenn auch dessen Ränder nicht durch Zäune abgesteckt sind, sondern mehr oder weniger übergangslos in benachbarte Felder übergehen.

 

Wenn ich im folgenden kurz auf drei dieser Wege eingehe, dann bedeutet dies (unter anderem): Ich behandle einige Wege, nicht alle. Ich beschränke mich auf deutschsprachige Autoren (und natürlich beschränke ich mich auf Vertreter der ehemals "rekonstruktiv" genannten Richtung der analytischen Literaturwissenschaft - was allerdings nach meinem neuen Einteilungsvorschlag keine Beschränkung mehr darstellt). Von diesen behandle ich die aus meiner Sicht wichtigsten, weil wirkungsmächtigsten Autoren (die freilich ihre Wirkungen in unterschiedlichen Parzellen dieses doch recht weiten Feldes entfaltet haben). Aber auch die Arbeiten dieser drei Autoren sollen (und können) hier nicht zur Gänze dargestellt werden; ich werde vielmehr die aus meiner Sicht zentralen Fragestellungen und Antworten der drei Autoren herausgreifen - selbstverständlich auch mit dem 'Hintergedanken', die in der Einleitung angesprochene differentialistische These möglichst plastisch illustrieren zu können. Es geht mir also darum zu zeigen, daß bei näherer Betrachtung auch zwischen den 'klassischen' Vertretern der (Vätergeneration der) analytischen Literaturwissenschaft signifikante Unterschiede, ja Differenzen selbst in methodologischer Hinsicht nachzuweisen sind.

2.1 Differentialismus: Werner Strube

Bezogen auf Werner Strube (geb. 1938) ist der Ausdruck "analytische Literaturwissenschaft" gleichbedeutend mit Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft (so der Titel seiner 1993 erschienenen Monographie). Strube ist somit der paradigmatische Vertreter der rekonstruktiven und metatheoretischen Richtung der analytischen Literaturwissenschaft. Überblickt man seine Publikationen zum Thema - seit 1979 immerhin etwa 15 Aufsätze und die angesprochene Monographie -, so erkennt man schnell ein bestimmtes Muster, einen einheitlichen Argumentationsgang oder ein einheitliches 'Strukturprinzip'. Ausgangspunkt ist in aller Regel eine (nicht notwendig explizit so formulierte) Was-ist-Frage, etwa: "Was ist [die] literaturwissenschaftliche Textinterpretation?" oder "Was sind die 'Grenzen der Literatur'?". Auf diese Frage antwortet Strube typischerweise mit einer differentialistischen These; die Antwort lautet kurz gesagt: "Das kommt darauf an". Die Leistung seiner Untersuchungen besteht dann darin aufzuweisen, worauf genau es ankommt; anders gesagt: in der Anfertigung einer "übersichtlichen Darstellung" (Wittgenstein) der verschiedenen theoretischen Ansätze oder (aus sprachanalytischer Perspektive) des literaturwissenschaftlichen 'Sprachgebrauchs'. Im Hintergrund dieser Vorgehensweise steht der Anti-Essentialismus und die "differentielle Betrachtungsweise" (Stegmüller) des späten Wittgenstein. Strube geht davon aus, daß es für viele literaturwissenschaftliche Begriffe keine genus-differentia-Definition geben kann und daß ihre Klärung deshalb in Form einer - auf bestimmte Weise durchgeführten - Beschreibung des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs zu erfolgen hat. Neben der allgemeinen Ausrichtung an Wittgensteins 'Spätphilosophie' und den damit zusammenhängenden Begriffskonzeptionen (wie etwa "Familienähnlichkeit"), bedient sich Strube typischer 'Methoden' der analytischen und i.e.S. sprachanalytischen Philosophie (wie etwa der Sprechakttheorie oder dem Austinschen "Weg über die Unglücksfälle").

 

Ein prägnantes Beispiel für Strubes Vorgehensweise findet sich im Kapitel "Typen der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation" aus Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Anhand ein und desselben Textes, nämlich anhand von Goethes "Wandrers Nachtlied" ("Über allen Gipfeln ist Ruh'"), rekonstruiert (oder 'fingiert') Strube vier verschiedene, theoretisch unterschiedlich fundierte Interpretationen: eine strukturbestimmende, eine stilbestimmende, eine psychologische und eine literaturhistorische Interpretation dieses Gedichts. Alle vier Interpretationen können, sofern sie bestimmten Kriterien genügen, 'glücken', und zwar selbst dann, wenn sie zu verschiedenen, einander widersprechenden Ergebnissen kommen. Darüber hinaus ließe sich die Reihe der Interpretationstypen erweitern, etwa um die sozialgeschichtlich orientierte Interpretation oder die Gattungsbestimmung.

 

Strube liefert auf diese Weise eine sprachanalytisch-philosophische Begründung der These des sogenannten Interpretationspluralismus: Es kann mehrere, nebeneinander bestehende und sogar konfligierende Interpretationen eines Textes geben, die gleichermaßen richtig oder 'geglückt' sind - je nachdem, ob die Zwecksetzung des jeweiligen Interpreten erfüllt wurde und die spezifische Form seines Argumentierens bestimmten Kriterien genügt. Auch Gottfried Gabriel vertritt die These des Interpretationspluralismus (ich werde gleich darauf zurückkommen), begründet diese jedoch auf andere Weise - ein Beispiel für die oben angesprochene Möglichkeit, daß es auf dem Feld der analytischen Literaturwissenschaft unterschiedliche Wege geben kann, die zu ein und demselben Ziel führen.

 

Auf die Gefahr hin, das Bild des von verschiedenen Wegen durchzogenen Feldes überzustrapazieren: Unter den drei hier behandelten Autoren ist Werner Strube der Spaziergänger; für ihn ist der Weg das Ziel. Soll heißen: Ausgangspunkt und Ziel seiner Untersuchungen (bzw. Spaziergänge) sind in der Regel identisch: Am Anfang steht eine differentialistische These, die durch eine deskriptiv-differentialistische Darstellung belegt werden soll. Die Ergebnisse seiner Analysen (das "Ziel" also) wirken oft wenig spektakulär; auch haben sie etwas Stereotypes, vielleicht sogar Triviales an sich. Man denke an die typischen Formulierungen: "So etwas wie die Klassifikation literarischer Texte gibt es nicht." (Strube 1993, S. 56) Oder: "So etwas wie die literaturwissenschaftliche Textinterpretation gibt es nicht." (Ebd., S. 91) Oder auch: "So etwas wie die eine Art und Weise des Verunglückens der strukturbestimmenden - oder einer ähnlichen - Textinterpretation gibt es nicht". (Ebd., S. 125) Das eigentliche Verdienst der Untersuchungen Strubes wird erst erkennbar im Vollzug: Eine übersichtliche Darstellung läßt sich nicht auf eine 'steile' These reduzieren; man muß sie zur Gänze zur Kenntnis nehmen. Angesichts der Kritik an diesem deskriptiven Programm vor allem durch Harald Fricke, ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß Strubes Vorgehen keineswegs (mit einer Formulierung Wittgensteins) "alles läßt wie es ist": Wenn die übersichtliche Darstellung glückt, dann stellt sie immerhin Übersichtlichkeit her, führt gegebenenfalls zur Klärung der literaturwissenschaftlichen Begriffe bzw. 'Verfahren' und möglicherweise sogar zu einer "Therapie" begrifflicher Verwirrungen. Trotzdem: Frickes Kritik an Strubes Weigerung, über den Aufweis einer "Palette" von verschiedenen Verwendungen eines Ausdrucks hinauszugehen und einzelne Gebrauchsweisen gegenüber anderen als 'besser', 'zweckmäßiger' o.ä. auszuweisen, ist durchaus verständlich und nachvollziehbar; auch darauf wird zurückzukommen sein. An dieser Stelle sei nur ein Satz Frickes (aus einer E-Mail an mich) zitiert, der diese Kritik an Strube einerseits recht treffend zusammenfaßt, andererseits aber auch sehr schön zum Bild Strubes als Spaziergänger paßt: "Ich hätte halt immer gern, daß er [Strube] einen kleinen Schritt weiter geht."

2.2 Nicht-propositionale Erkenntnis: Gottfried Gabriel

Zur Darstellung der Position Gottfried Gabriels (geb. 1943) bietet sich - auch dies verweist auf die Unterschiede bei den 'klassischen' Vertretern der deutschsprachigen analytischen Literaturwissenschaft - eine andere Vorgehensweise an als bei Strube. Lassen sich die Arbeiten des letzteren allgemein als Anwendung eines einheitlichen Prinzips auf unterschiedliche Fälle (oder Probleme) charakterisieren, so hat man es bei Gabriel eher mit einer 'genetischen' Entwicklung zu tun, bei der sich aus einer Art 'Keimzelle' über die Zeit verschiedene Gegenstände und Ergebnisse seiner Untersuchungen entfalten. Ausgangspunkt ist die Frage nach "Bedeutung in der Literatur" - so der Titel seiner Konstanzer Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1980, in der er seine "semantische Theorie der Literatur" aus Fiktion und Wahrheit von 1975 zusammenfaßt und weiterentwickelt. Vor dem Hintergrund der Fregeschen Unterscheidung von Sinn und Bedeutung fragt (der Frege-Kenner) Gabriel nach der Möglichkeit literarischer Erkenntnis. Daß es sich angesichts der Fiktionalität der (meisten) literarischen Texte dabei nicht um die Erkenntnis einer propositionalen Wahrheit handeln kann, liegt auf der Hand. Während er aber (ähnlich wie Nelson Goodman) den Begriff der Wahrheit auf propositionale Wahrheit begrenzt sein läßt, erkennt Gabriel doch so etwas wie nicht-propositionale Erkenntnis an. Zwei Faktoren konstituieren den Erkenntniswert der Literatur: Zum einen konstatiert Gabriel eine "Richtungsänderung des Bedeutens" in literarischen Texten gegenüber philosophischen, wissenschaftlichen oder allgemein apophantischen Texten: Der Erkenntniswert literarischer Texte liegt nicht im referentiellen Verweisen oder Bezugnehmen, sondern im Aufweisen oder Darstellen eines Sinns; er entfaltet sich im "Sprachmodus des Zeigens". Diese Richtungsänderung des Bedeutens läßt sich auf die Formel bringen: "weg von der Referenz, hin zum Sinn." (Gabriel 1991, S. 15) Zum anderen zieht diese spezifische Form literarischen Bedeutens eine entsprechende Form des Umgangs auf Seiten des Lesers nach sich: Bei der Feststellung des Sinns eines (literarischen) Textes ist laut Gabriel nicht die bestimmende Urteilskraft gefragt, die ein Besonderes unter ein gegebenes Allgemeines subsumiert, sondern die reflektierende Urteilskraft, die zu einem Besonderen das Allgemeine erst entwirft oder hinzudenkt. Literarischem Sinn kommt demzufolge immer eine gewisse Unbestimmtheit zu; anders formuliert: Das Verständnis oder die Interpretation literarischer Texte ist unabschließbar.

 

Auch Gabriel vertritt also, wie Strube, die These des Interpretationspluralismus. Während Letzterer sie jedoch sprachanalytisch-differentialistisch begründet, haben wir es bei Gabriel mit einer einerseits sprachphilophischen, andererseits transzendentalphilosophischen Begründung zu tun. (Strube nennt diese Begründung übrigens "transzendentalpsychologisch".)

 

Wenn Strube der Spaziergänger ist, dann könnte man Gabriel als den Wanderer charakterisieren, der das Feld der analytischen Literaturwissenschaft durchaus auch einmal verläßt (und möglicherweise nicht dorthin zurückkehrt). So war sein Plädoyer für die Möglichkeit literarischer Erkenntnis von vornherein ausgerichtet auf umfassendere Formen ästhetischer Erkenntnis, die schließlich in das Konzept eines Kontinuums von Erkenntnisformen eingingen, auf dem neben den propositionalen Erkenntisformen der Logik, Philosophie und Wissenschaft auch die nicht-propositionalen Erkenntnisformen der Künste gleichberechtigt angeordnet sind. Mit seinen Untersuchungen zum Verhältnis von Logik und Rhetorik und schließlich zur Ästhetik und Rhetorik des Geldes (2002) hat sich Gabriel inhaltlich immer weiter von der analytischen Literaturwissenschaft entfernt. Methodologisch jedoch fußen selbst seine Untersuchungen zu deutschen Pfennig- und Euro-Münzen, zur "Eiche als deutschem Nationalsymbol" oder zur "Münzpolitik und politischen Ikonographie im 19. Jahrhundert" noch auf denselben Grundlagen wie seine Philosophie der Literatur.

2.3 Explikation: Harald Fricke

Harald Fricke (geb. 1949) ist - unbeschadet der Tatsache, daß auch er promovierter Philosoph ist - in gewisser Weise der Germanist unter den hier behandelten analytischen Literaturwissenschaftlern. Dies gilt einerseits natürlich institutionell: Er ist Inhaber eines germanistischen Lehrstuhls, während Strube und Gabriel Inhaber philosophischer Lehrstühle waren bzw. sind. Andererseits - und wichtiger - zeigt sich dieses 'Germanistische' in Frickes Arbeiten. Bereits 1984 fordert er, daß ein "analytischer Literaturwissenschaftler [...] in jeder Publikation wenigstens ein literaturwissenschaftliches Problem mit einbeziehen [sollte], das auch schon im Rahmen eines vor-analytischen Paradigmas diskutiert worden ist - und dann zeigen [sollte], daß die analytische Literaturwissenschaft es besser zu lösen vermag als die traditionelle Literaturgeschichte." (Fricke 1984, S. 53) Neben seinen Bemühungen um die terminologische Klärung der Sprache der Literaturwissenschaft legt er 1981 mit Norm und Abweichung eine - wie man sagen könnte - sehr 'germanistische' "Philosophie der Literatur" vor, die ja tatsächlich - sehr zu Frickes Leidwesen - von Philosophen (zu unrecht) nur wenig rezipiert wird. Während Gabriels Untersuchungen trotz einiger Arbeiten zur literaturwissenschaftlichen Terminologie und zur theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft insgesamt doch im Bereich der Sprachphilosophie anzusiedeln sind, und während Strubes Philosophie der Literaturwissenschaft (mit einem Zitat Frickes) zwar "oft zitiert" aber (von Germanisten) "zu wenig gelesen" wird, ist Fricke derjenige analytische Literaturwissenschaftler, der (salopp gesagt) am meisten germanistisch 'Verwertbares' produziert: Nicht nur, daß man ihn als mastermind hinter dem neuen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ansehen darf; zu nennen sind darüber hinaus die Neuedition von Goethes Sprüchen in Prosa (ehemals Maximen und Reflexionen) sowie im propädeutischen Kontext die Einübung in die Literaturwissenschaft mit dem Untertitel Parodieren geht über Studieren.

 

Im vorliegenden Zusammenhang jedoch steht Fricke für das Carnapsche Konzept der Explikation, das er bereits in seiner 1977 erschienenen Dissertation als probates Mittel für explizite Begriffsfestsetzungen in der Literaturwissenschaft gefordert hat. Auch wenn es gegenüber seinen vielfältigen anderen Arbeiten ein wenig ungerecht erscheinen mag, Fricke hier allein auf dieses Konzept zu reduzieren, so liegt es doch nahe nicht zuletzt wegen Frickes eigenen Bekundungen etwa zur Entstehung der Neuausgabe von Goethes Maximen und Reflektionen. In einem Beitrag zur Festschrift für Karl Eibl mit dem Titel "Von der Speziellen zur Allgemeinen Relativitätstheorie der Kunst" zieht Fricke selbst eine Linie von seinem "Projekt eines terminologischen Explikations-Programms", wie er es in seiner Disseration entwickelt hat, über die Ausarbeitung der Abweichungstheorie in Norm und Abweichung bis hin zur "empirischen Erprobung" dieser Theorie am Beispiel des Aphorismus und damit zusammenhängend zur philologischen Arbeit an Goethes Sprüchen in Prosa.

 

Ich kann aus Zeitgründen weder auf die Einzelheiten und Schwierigkeiten des Explikationskonzepts noch bspw. auf Gabriels Kritik an Frickes Forderungen für den Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Terminologie eingehen. Im Sinne des Aufweisens der signifikanten Unterschiede zwischen den hier behandelten 'klassischen' Autoren der analytischen Literaturwissenschaft will ich nur kurz auf Frickes Kritik an der Bestimmung literaturwissenschaftlicher Begriffe im Sinne der ordinary language philosophy (wie sie beispielsweise von Strube durchgeführt wurde) zu sprechen kommen, bei der ja die Begriffsexplikation als alternatives Modell angeboten wird. Laut Fricke wird es "für eine angemessene wissenschaftssprachliche Rekonstruktion kaum einmal ausreichen, im Sinne der 'Ordinary Language Philosophy' den eingebürgerten Sprachgebrauch lediglich genau zu analysieren und, weil dieser somit auch schon als gerechtfertigt gilt, auf eine eigenständige, die bisherige Verwendung präzisierende Normierung ganz zu verzichten." (Fricke 1977, S. 259) Fricke unterstellt damit (mit einer kleinen Einschränkung: "kaum einmal"), daß sich literaturwissenschaftliche Begriffe in den allermeisten Fällen von einem "Explikandum durch explizite metasprachliche Selbstverpfichtung in ein Explikat überführen lassen, das anstelle des älteren, oft vagen oder vieldeutigen Wortgebrauchs zuverlässig verwendet werden kann". (Fricke 2006, 376) Im Gegensatz zu Strube, der etwa Begriffe wie "Novelle" oder auch "Literatur" als Familienähnlichkeitsbegriffe beschreibt und sich Aussagen über den 'richtigen' Wortgebrauch enthält, hält Fricke demnach an der Möglichkeit operationaler Präzisierungen der literaturwissenschaftlichen Sprachverwendung im Sinne terminologischer Fixierung im Grundatz fest. Neben den Spaziergänger Strube und den Wanderer Gabriel tritt damit - man möge mir den Kalauer verzeihen - der 'Terminator' Fricke.

3. Zum gegenwärtigen Zustand der analytischen Literaturwissenschaft

In einer Rezension des Sammelbandes Regeln der Bedeutung (Jannidis u.a. 2003) mit dem bezeichnenden Titel "Analytische Literaturwissenschaft jenseits methodologischer Richtungskämpfe" gibt der (selbsternannte) "alte Sämann" Harald Fricke seiner Freude darüber Ausdruck, daß "er gelassen zuschauen darf, wie auch in widrigen Zeitläuften eine Saat so gut aufgeht." Denn entgegen seiner pessimistischen Einschätzung aus dem Jahr 1984, als Fricke noch "Anzeichen einer tiefgreifenden Rezession" der analytischen Methodologie wahrzunehmen glaubte (vgl. Fricke 1984, S. 42), beurteilt er die Lage 2005 ungleich optimistischer: "Die Analytische Literaturwissenschaft hat die Phase methodologischer Richtungskämpfe hinter sich gelassen und ist, sehr im Gegensatz zu kurzatmig wechselnden Modetorheiten des Faches, normales Paradigma seriöser Literaturwissenschaft geworden, im deutschsprachigen wie englisch-internationalen Bereich." (Fricke Rezension) An dieser vollmundigen Aussage ist einiges bemerkens- und kommentierenswert.

 

Zunächst will ich nur kurz auf einige 'Merkwürdigkeiten' hinweisen, die möglicherweise einer gewissen Euphorie über den Zustand der analytischen Literaturwissenschaft geschuldet sind - und wohl auch der Polemik nicht ganz entbehren. Während man sich nur schwer vorstellen kann, worin die (überwundenen) "methodologischen Richtungskämpfe" innerhalb der analytischen Literaturwissenschaft bestanden haben mögen, ist andererseits wohl ziemlich klar, wer oder was mit "kurzatmig wechselnden Modetorheiten" in der Literaturwissenschaft (wiedermal) gemeint sein dürfte. Daß man sich mit Fug darüber streiten kann, was als "seriöse" Literaturwissenschaft zu gelten hat, würde wohl auch Fricke nicht abstreiten, gleichwohl man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß hier wiedermal die vielbeschworene 'Wissenschaftlichkeit' eine Rolle spielt. Auch daß die Konzepte der "normalen Wissenschaft", deren "Paradigmen" gewissen Wechseln unterliegen, von ihrem Begründer Thomas S. Kuhn explizit auf die Naturwissenschaften eingegrenzt wurden und folglich auf die Literaturwissenschaft als einer Geisteswissenschaft schwerlich anwendbar sind, soll hier nur am Rande vermerkt werden.

 

Wichtiger scheinen mir folgende Einwände gegen Frickes Einschätzung zu sein. Zum einen wird in der Beschreibung der analytischen Literaturwissenschaft als vorherrschendes literaturwissenschaftliches Forschungsprogramm die schiere Quantität anderer, nicht-analytischer Ansätze unterschätzt. Zudem mangelt es der analytischen Literaturwissenschaft bis heute an praktisch-literaturwissenschaftlichen Konzepten in nennenswertem Ausmaß. - Zum anderen (und wichtiger) sind (wie ich versucht habe zu zeigen) innerhalb der analytischen Literaturwissenschaft signifikante Unterschiede zu konstatieren, ja sogar Streit über die 'richtigen' Vorgehensweisen und Zielsetzungen (etwa zwischen Strube und Fricke oder zwischen Fricke und Gabriel). Frickes allzu optimistische und homogene Beurteilung des gegenwärtigen Status der analytischen Literaturwissenschaft ist deshalb zurückzuweisen. Es lassen sich - zusammenfassend - jedoch zwei Perspektiven auf diesen Status unterscheiden:

 

Aus einer 'sachferneren' Sicht läßt sich - wie im ersten Abschnitt versucht - durchaus eine Präzisierung (oder wenn man so will: eine Explikation) des Ausdrucks "analytische Literaturwissenschaft" bezogen auf die gegenwärtige Situation vornehmen. Grundlage hierfür sind nicht zuletzt 'institutionelle' Faktoren: die Reihe EXPLIKATIO, eine Reihe erschienener und noch erscheinender Sammelbände (angefangen mit Zur Terminologie der Literaturwissenschaft bis hin zu der neu etablierten Reihe Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie, in der Vertreter der analytischen Literaturwissenschaft eine wichtige Rolle spielen dürften) und vermutlich, zumindest in Teilen, auch die ab nächstem Jahr erscheinende Zeitschrift JLT: Journal of Literary Theory.

 

Aus einer 'sachnäheren' Sicht jedoch, die ich durch das Aufzeigen der drei Wege versucht habe einzunehmen, ergibt sich angesichts der dargelegten Unterschiede selbst zwischen zentralen Autoren der analytischen Literaturwissenschaft eine differentialistische These: So etwas wie die analytische Literaturwissenschaft gibt es nicht - was jedoch nicht heißt, daß es gar keine analytische Literaturwissenschaft gäbe. Anders, nämlich in Anlehnung an Nelson Goodman formuliert: Die Aufforderung, die analytische Literaturwissenschaft zu definieren, ist in etwa so sinnvoll wie die Aufforderung, die Zahl zwischen 3 und 7 zu benennen. Aber es gibt sehr wohl Zahlen zwischen 3 und 7 - und es gibt Zahlen, die kleiner sind als 3 oder größer als 7. Auf die analytischen Literaturwissenschaft bezogen: Die Zahlen zwischen 3 und 7 stehen für die unterschiedlichen Wege, die in der analytischen Literaturwissenschaft beschritten wurden und werden, für bestimmte Autoren also, aber auch für bestimmte Vorgehensweisen und Zielsetzungen, die von verschiedenen Autoren geteilt werden.

 

Die differentialistische These darf allerdings nicht als resignative Anerkennung eines beklagenswerten Zustands mißverstanden werden. J.L. Austins Motto "Auf die Unterschiede kommt es an!" leitet den Differentialismus nicht nur in der Beschreibung des 'faktischen' Zustands; vielmehr sind nach differentialistischer Überzeugung die Unterschiede in der Verwendung des jeweiligen Ausdrucks - und näherhin: der Streit über dessen 'richtige' Bedeutung - notwendiger, wenn man so will: wesentlicher Bestandteil vieler literaturwissenschaftlicher Begriffe. Auf die analytische Literaturwissenschaft bezogen: Träfe die oben zitierte Einschätzung Frickes zu, wäre die weitere Entwicklung der analytischen Literaturwissenschaft in unzweckmäßiger Weise 'terminiert'.

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